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Brautsymbol und Kreuz

daß sie ganz lauter und rein und frei von allen früheren Formen und Gestalten wird....“[1] Dieses Nichtwissen dauert aber nur solange, bis die besondere Wirkung der Liebe vorüber ist.

Das Trinken im Keller hat aber noch eine andere Wirkung: an die Stelle des alten Menschen tritt ein völlig neuer. Ehe die Seele in den Stand der Vollkommenheit eintritt, bleibt ihr, auch bei hoher Vergeistigung, immer noch eine kleine Herde von Begierden, Freuden und Unvollkommenheiten. „Sie geht dieser Herde nach und sucht sie zu weiden, um sie dadurch zu befriedigen“. Der Verstand behält meist noch etwas von seiner alten Wißbegierde, der Wille läßt sich noch von persönlichen Begierden und Genüssen einnehmen. Man verlangt noch nach dem Besitz gewisser Kleinigkeiten und pflegt gewisse Neigungen, hascht gern nach Hochschätzung und fühlt sich leicht zurückgesetzt, trifft noch eine Auswahl beim Essen und Trinken nach dem Geschmack, wird von unnützen Sorgen, Freuden, Leiden und Befürchtungen bestürmt. Dies ist jene Herde von Unvollkommenheiten, der solche Seelen nachgehen, „bis sie in den inneren Weinkeller eintreten und zu trinken bekommen; dann verlieren sie sie ganz durch die Vollendung in der Liebe....“[2]

In der bräutlichen Vereinigung umgibt Gott die Seele mit einer Liebe, der sich auch die zärtlichste Mutterliebe nicht vergleichen kann. Er „bietet ihr Seine Brust“, d.h. Er offenbart ihr Seine Geheimnisse und schenkt ihr das süße Wissen der mystischen Theologie, der geheimen Gotteswissenschaft. Dafür gibt auch die Seele sich Ihm rückhaltlos. „Sie hat nur den einen Wunsch, Ihm ganz und für immer anzugehören und nichts in sich zu behalten, was von Ihm verschieden ist....“ Und da Gott alles andere aus ihr entfernt hat, woran ihr Herz hing, kann sie sich nicht nur dem Willen nach, sondern auch in der Tat rückhaltlos hingeben. Beider Willen sind völlig eins, in Treue und Festigkeit für immer verbunden. Selbst die ersten Regungen der Seele wenden sich niemals mehr gegen das, was sie als den Willen Gottes erkennt. Sie kennt nichts mehr als die Liebe und den Umgang mit dem göttlichen Bräutigam. Sie hat „jenen Stand der Vollkommenheit erreicht, dessen Wesen und Form .... die Liebe ist“. Sie ist „sozusagen ganz Liebe. Sie handelt nur unter Eingebung der Liebe und verwendet alle ihre Vermögen und ihren ganzen Reichtum nur für die Liebe.... Sie hat erkannt, daß ihr Geliebter nichts als die Liebe schätzt und daß Ihm mit nichts anderem gedient ist. Und weil sie Ihm vollkommen dienen will, gebraucht


  1. Erklärung zu Str. 26 (17) V. 4, Obras 347 u. 95.
  2. Str. 26(17) V. 5, Obras 351 u. 97.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/231&oldid=- (Version vom 6.1.2019)