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Zwei Betrachtungen zu Edmund Husserl

Niederschlag vieljähriger Untersuchungen, der knapp zusammenfassende Ausdruck vielgestaltiger Forschungen, bei dem vieles unausgesprochen blieb, was in ungedruckten Entwürfen niedergelegt oder in mündlichem Gedankenaustausch mitgeteilt wurde. Das macht dem Fernerstehenden das Eindringen in den Zusammenhang dieses Lebenswerkes schwer. Husserl hat sich niemals bestimmen lassen, jene älteren Entwürfe zu veröffentlichen. Sie bedeuten für ihn Stufen, die er hinter sich gelassen hat, und es liegt ihm alles daran, zu der Höhe emporzuführen, auf der er sich jetzt weiß. Darum hat auch das neueste Werk, wie schon manches frühere, den Charakter einer Einführung.

Es geht von der gegenwärtigen Krisis der Wissenschaft aus. In der Tat muß man – trotz der glänzendsten Leistungen und Erfolge – von einer allgemeinen Krisis der Wissenschaft sprechen. Man bringt ihr nicht mehr das Vertrauen entgegen wie noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie hat gegenüber der Not des Lebens versagt. Das neuzeitliche, an die Antike anknüpfende Ideal einer alles Seiende in ein Vernunftsystem fassenden und alles Leben durch die Vernunft gestaltenden Philosophie ist gescheitert. Dieses Ideal ist im Zusammenhang mit der modernen mathematischen Naturwissenschaft erwachsen; das entscheidend Neue daran gegenüber der Antike ist das Ideal der mathematischen Methode. Diese Methode muß bis zu ihren Ursprüngen verfolgt und auf ihren Sinn geprüft werden, weil das Verkennen dieses Sinnes und die dadurch bedingte Ausdehnung ihres Anwendungsbereichs für das Scheitern der modernen Philosophie verantwortlich zu machen ist.

Als ihr hervorragendster Bahnbrecher wird Galilei in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt und sein Verfahren eindringlich untersucht. Was er als Erbe der Antike vorfand, was die Geometrie als axiomatisches System und ihre Anwendbarkeit auf die Raum-Körperwelt, deren Gestalten Annäherungen an die idealen geometrischen Gebilde sind und Messung und Berechnung zulassen. Daran anknüpfend baute er die induktive Methode, die auf der Hypothese beruht, daß die gesamte Natur — nicht nur die Gestalten, sondern alle sinnlichen Qualitäten — mathematischer Gesetzlichkeit unterstehe und, wenn auch mittelbar, meßbar und berechenbar sei. Man kam dazu, die mathematische Gesetzlichkeit als das wahre Sein der Natur, das Objektive, anzusehen und die Sinnenwelt als subjektiv.

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Edith Stein: Zwei Betrachtungen zu Edmund Husserl. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/36&oldid=- (Version vom 31.7.2018)