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Unterschieden besteht aber die Gleichheit, daß die heiligen Lehrsprüche ebenso wie die Sprichwörter des Volkes auf das natürliche Leben in der Mannigfaltigkeit seiner immer wiederkehrenden Verhältnisse sich beziehen, indem sie lehren diese richtig zu beurteilen und sich in ihnen richtig zu verhalten. Was sonst Frömmigkeit oder Zucht heißt, das erscheint im Buche der Sprüche als Weisheit, und das, was sonst Sünde ist, das heißt hier Thorheit.

 Anmerkung. Mit Recht nannten die Kirchenväter das Buch der Sprüche die „Weisheit“. Es liegt hier dasselbe Streben vor, wie in der Philosophie, nämlich das Streben, in dem, was in der Natur und dem sittlichen Leben der Menschen geschieht und erscheint, das Wesen und die Gesetze zu erkennen. Dieses Streben eignete besonders Salomo und seiner Zeit, weil damals durch den Verkehr mit vielen fremden Völkern der Gesichtskreis Israels sich erweiterte und das gemein menschliche und welttümliche Wissen damals in Israel seinen Gipfelpunkt erreichte. Von den Tagen Salomos an fehlte es denn nicht mehr an Männern, ja an Kreisen von Männern, welche die „Weisheit“ (Chokmah) pflegten. Spr. 13, 20; 15, 12; Jer. 18, 18; Ez. 7, 26, vgl. Hiob 12, 12. Noch spezieller charakterisiert sich diese Chokmah dadurch, daß sie ausgeht von der Furcht = Religion Jehovas, aber universalistisch oder humanistisch gerichtet ist, d. h. das Gemeinreligiöse in der Jehova-Religion und das Gemeinsittliche in der Thora betont.

 4. Die Grundform des salomonischen Spruchs ist das Distichon mit antithetischem Parallelismus (10, 1). Der Parallelismus kann aber auch ein synonymer (11, 25) oder ein synthetischer (10, 18) sein. Der Spruch lehrt bald durch den Gegensatz, bald durch die Ähnlichkeit, bald durch weitere Ausführung des Gedankens. Indes kann das Distichon oder der Zweizeiler sich auch erweitern zum Vierzeiler, Tetrastich, wo die zwei letzten Zeilen zu den zwei ersten sich verhalten wie im Zweiteiler die zweite Zeile zur ersten, z. B. 23, 15 f. 30, 5 f. 17; 22, 22 f. 25, 16; zum Sechszeiler z. B. 23, 1–3; 23, 12–14, ja bis zum Achtzeiler, Oktastich, 23, 22–25, während es auch Drei-, Fünf- und Siebenzeiler gibt (25, 20; 25, 6. 7; 23, 6–8). Darüber hinaus wird der Spruch zum Liede (23, 29–35) oder zur Schnur (26, 13–16). Außerdem merke man die Form des Zahlenspruchs, z. B. 6, 16–19.

 5. Inhaltsübersicht.

 I. Buchtitel 1, 1–6.

 Der Redaktor gibt dem Buche v. 1 eine Aufschrift und sagt v. 2–6, wozu die Spruchsammlung (c. 10–22, 16) dienen soll. Sie soll besonders den Jüngeren und Unerfahreneren, welche denn auch in den Ermahnungen 1, 7