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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Branntwein geschickt und in dem armseligen zusammengebrochenen Haufen hatte der Knabe seinen Lehrer erkannt.

War der Lehrer betrunken oder tot? Eine dritte Möglichkeit gab es für das beschränkte Fassungsvermögen des armen Jungen nicht. Schnell kauerte er sich nieder zu ihm auf den Schnee und hob das blasse Haupt auf die Knie. Er beugte sich zu ihm hin und schnupperte wie ein Jagdhund an dem Munde des Bewußtlosen. Nein, nach Branntwein roch sein Atem nicht. Stepan Nikolaitsch war also tot. Ein namenloses Entsetzen rüttelte den Knaben, hastig sprang er auf und lief spornstreichs in den Flecken hinein, so schnell ihn die Beine trugen.

Über den Marktplatz schritt mit weit ausholenden wuchtigen Schritten ein Mann.

Krisch stürzte ihm entgegen. „O helfen Sie, helfen Sie, Vater Nikiphor, Stepan Nikolaitsch ist tot – er liegt da hinter der Brücke!“

„Stepan Nikolaitsch tot? Was sagst Du, Junge? Noch heute war er frisch und gesund.“

„Kommen Sie, kommen Sie schnell!“ jammerte Krisch. „Es ist Stepan Nikolaitsch und da liegt er im Schnee hinter der Brücke, ganz starr und kalt!“

Betroffen folgte der Geistliche dem Knaben. In fünf Minuten waren sie zur Stelle. Der Pope kniete nieder und betastete den Besinnungslosen. Er riß ihm den Rock auf und legte ihm die Hand auf das Herz.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/170&oldid=- (Version vom 1.8.2018)