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man als Gegenbild das lichtscheue, unoffene, in Winkelzügen sich gefallende, gedrückte und unfreie Dasein des Orthodoxen entgegenstellt, den Erweis der Richtigkeit ihrer Weltanschauung erblicken, wie es denn Unsitte auf allen Seiten ist, bei den Gegnern wie bei den Eigenen Einzelerscheinungen zu generalisieren: so sind jene und so sind wir.

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 Die lutherische Kirche hüte sich nur – das ist ein wohlgemeinter, aber auch wohlberechtigter Rat – vor Übertreibungen, wie sie in Broschüren für Stimmungsmache, in Massenaufgeboten, in schnell hingeworfenen Zeitungsartikeln sich finden, sie buche nicht, was gegen sie und was an sich gefehlt wird, οὐ λογίζεται τὸ κακὸν, weil so leicht dann die Freude über das Unrecht sich einstellt, sondern sie nehme in dem ihr vorausgesagten und aufgenötigten Kampfe Waffen der Gerechtigkeit zur Abwehr wie zum Angriff (2. Kor. 6, 7). So war die in Nürnberg versammelte Allg. Ev.-Luth. Konferenz, wenn wir recht urteilen, gestimmt. Nicht die verletzenden, sondern die strafenden, nicht die herausfordernden, sondern die zu Tatsachen sich bekennenden und sie um der Kirche und um der Gegner willen beklagenden Worte gaben den Hauptton. Die Antithese – das ist echt lutherisch – war nicht die Hauptsache, sondern die schlichte, ihres Weges gewisse These, wie sie in den beiden gottesdienstlichen Darbietungen, denen der Verfasser beiwohnen konnte, zum Ausdruck kam. In den Kernpunkt lutherischer Erkenntnis und wahren Lebens einführend ließen die Prediger am Morgen des 9. und 10. September die wissenschaftliche Zurüstung, wie sie ihr Beruf erwirbt und besitzt, bedarf und darbietet, nicht vermissen, aber weder gleißen noch klirren, sondern nur der Erbauung der Gemeinde dienen. Die Innigkeit und Tiefe des einen, die Schlichtheit, Geradheit und frohe Gewißheit des andern Zeugnisses haben dem Freunde der lutherischen Kirche das Herz erfreuen, ja zum Jubel stimmen müssen über einer Kirche, die so predigen kann, so ohne Rhetorik und Schmuck zum Herzen reden darf. Nichts von Auseinandersetzung mit modernen Problemen, keine Zitate von Goethe bis auf Ibsen, daß man immer mit Unruhe an die Lücken im Büchmann daheim und im eigenen Wissen denken muß, sondern die majestätische Gewißheit des alten Glaubens an den, der nicht erst zu überwinden braucht, und die herzstärkende Weissagung des endlichen Sieges. Dazu kam das treue Vermächtnis

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Hermann von Bezzel: Zeitbetrachtung. A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1914, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Zeitbetrachtung.pdf/16&oldid=- (Version vom 10.9.2016)