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So saß ich einmal in Moskau, man gab die „Traviata“, glaube ich, neben zwei Herren, die sich in spanischer Sprache unterhielten. Ich verstehe spanisch. Der Eine sagte: „Dieses Weib raubt mir den Athem!“ … Und der Andere, blaß, ernsthaft: „Ich darf sie überhaupt nicht mehr sehen, sonst heirathe ich sie.“ Dieser war ein Gesandtschafts-Attaché. Ich traf ihn später doch täglich im Theater, und er hat sie nicht geheirathet … Gleichviel, ich betrachtete an jenem Abend nicht ohne Rührung und Heiterkeit mein gelungenes Werk. Die Schusterstochter! Diese Diva? Diese berückende Frau mit der schläfrig süßen Stimme? Wenn Mäusel das erlebt hätte! … Als ich nach der Vorstellung mit ihr in unserem gemeinschaftlichen Salon soupirte, rief ich befriedigt aus: „Rosel, heute hast Du mir gefallen!“ (Ich duzte sie nämlich aus Bequemlichkeit.) Und bei diesen Worten kniff ich sie wohlwollend in die Wange. Sie aber bog sich ganz empört zurück und warf mir den strafenden Königinnenblick zu, den ich ihr beigebracht, für den Fall, daß sich Jemand zu viel herausnehmen sollte. Das ergötzte mich noch mehr. Ich fand sie auf einmal wirklich reizend und – und begriff beinahe, daß sie Einem „den Athem rauben“ könne …

Ohne viel Ueberlegung, mich in einem Rechte fühlend, von dem ich zufällig bisher keinen Gebrauch gemacht, lege ich also meinen Arm um ihre Taille und will sie an mich ziehen. Sie reißt sich los, heftig, daß ich fast das Gleichgewicht verloren hätte, stürzt aus dem Zimmer und sperrt sich ein … Erst war ich verdutzt, dann lachte ich laut, dann sang ich vor ihrer Thür zum Spaß: „Gute Nacht, Du mein herziges Kind!“ dann trank ich allein den Champagner weiter, und als ich mich schlafen legte – war ich sterblich in sie verliebt …

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/68&oldid=- (Version vom 1.8.2018)