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„Ich will aber von Deiner Großmuth nichts wissen“, schrie Martin, in dem ein Vorgefühl des Klassenunterschiedes zu rumoren begann. „Gleich und Gleich oder gar nicht!“

„Lieber Martin“, bemerkte Kilchberg darauf mit Ueberlegenheit, „Gleich und Gleich gibt es in der Welt nicht. Denn nicht einmal wir, die wir von gleichen Eltern abstammen und dieselben Erinnerungen, Anschauungen und Wünsche haben, sind oder können jemals gleich sein. Aus dem Unterschied unserer Anlagen erwächst eine Verschiedenheit unserer Verhältnisse. Das wirst Du gütigst nicht leugnen wollen, denn es drückt sich in etwas aus, wovor Du ebensoviel Respekt hast wie ich selbst: in Ziffern.“

Martin entgegnete bitter: „Du sprichst schon in Deiner Eigenschaft als Protz, obwohl das noch ziemlich verfrüht ist. Uebrigens erkenne ich daraus, welche Rolle Du mir zudenkst. Aber lieber will ich bei fremden Leuten dienen, als Dein Schleppträger werden, der Du nur der Mann Deiner Frau sein wirst.“

„Das nimmst Du zurück!“ forderte Kilchberg.

„Das nehme ich nicht zurück“, erklärte Martin, der froh war, ein verwundendes Wort gefunden zu haben, weil er seit der Geschichte mit der eisernen Dame innerlich von Neid ganz und gar zerfressen war.

„Dann kenne ich Dich nicht mehr“, sagte Kilchberg.

Und Martin schloß: „Recht so, Du behandelst mich schon als armen Verwandten.“

Sie kamen auseinander. Der Streit war nicht einmal besonders groß gewesen. Als Jungen hatten sie sich oft geprügelt, als Jünglinge einander nicht selten brüderlich beschimpft, als Männer manchen Hader gehabt. Immer war die Versöhnung leicht und bald erfolgt. Aber diesmal wollte das nicht kommen. Jeder wartete auf die

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/98&oldid=- (Version vom 1.8.2018)