EIN MUTTERLIED
Wir dachten einst, was in uns lebt,
Kommt uns erhöht noch in den Kindern wieder
Gleich einem Rausch, der nimmer stirbt –
Wir dachten einst, die Welle, die uns hebt,
Mit denen uns die Liebe wirbt.
Uns trug die Welle einer Leidenschaft,
Uns trug der Freiheit und des Willens Kraft,
Wir wollten voll Inbrunst und frohem Schrecken
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Mein kleiner Niels, der freit die reiche Braut –
Mein kleiner Frank ist Pfründenhüter worden –
Und aus den Augen meiner Tochter schaut
Die Selbstsucht, die gewinnt an allen Orten –
Einst meine ersten Witwentränen flossen,
Ist eine Tänzerin und tanzt vor dem Parkett
Beethovens Trauermarsch, den Leidgenossen,
Denselben, den sie an dem Tage spielten,
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Oh alle sind sie „gut“
Und alle tragen Ehre
An ihrem Namen –
Sophie Hoechstetter: Vielleicht auch Träumen. Müller, München und Leipzig 1906, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hoechstetter_Vielleicht_auch_Traeumen.pdf/46&oldid=- (Version vom 1.8.2018)