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er den Mund öffnet, seine unersättlichen Begierden an den Tag legen; dann wird er in unanständiger Weise schlingen, die Speisen des Nachbars zu sich herüberziehen und ohne Erröten an allem lecken;[1] schließlich wird er, mit Speise übersättigt, ‘mit gähnendem Schlund’, wie die Dichter sagen,[2] trinken und das Gelächter und den Spott der Zuschauer erregen. 32 Du dagegen wirst, wenn du keinem Zwange unterliegst, dich maßvoll der Speise bedienen; wenn du aber gezwungen wirst, mehr zu genießen, so wirst du den Verstand als Herrn über den Zwang setzen[3] und es nie dahin kommen lassen, daß die Lust in ihr Gegenteil umschlägt, sondern wirst, wenn man dieser Verhaltungsweise einen Namen geben soll, einen nüchternen Rausch[4] haben. [6] 33 Die göttliche Wahrheit tadelt also mit Recht diejenigen, welche die Beschäftigungen und Erwerbstätigkeiten des bürgerlichen Lebens [551 M.] ungeprüft beiseite schieben und behaupten, sie verachteten Ruhm und Lust. Denn ihre Verachtung ist keine echte, sie prahlen nur und werfen ein schmutziges, finsteres Äußere und eine strenge und karge Lebensweise als Köder aus, um den Anschein zu erwecken, als wären sie Liebhaber des Anstandes, der Besonnenheit und Selbstbeherrschung. 34 Sie vermögen aber die sorgfältigeren Beobachter, die ins Innere eindringen und sich durch die sichtbare Oberfläche nicht irreführen lassen, nicht zu täuschen. Denn diese heben in die Höhe, was nur die Decke von etwas anderem ist, sehen zu, von welcher Beschaffenheit das im Innern Befindliche sei und bewundern es, wenn es schön ist, ist es aber häßlich, so verspotten und hassen sie es ob der Heuchelei.[5] 35 Zu solchen Leuten wollen wir also sagen: Ihr strebt nach einem Leben ohne Verkehr und Geselligkeit in Einfachheit und Einsamkeit? Welche von den Tugenden der Geselligkeit habt ihr denn vorher bewiesen? Vom Gelderwerb wendet ihr euch ab? Habt ihr zuvor als Erwerbstätige den Willen gezeigt, gerecht zu handeln? Ihr, die ihr euch stellt,


  1. Vgl. Plutarch, De lat. viv. C. 1.
  2. Hom. Od. 21, 294, wo wie hier vom unmäßigen Trinker die Rede ist.
  3. Vgl. All. Erkl. II § 29; III § 156.
  4. Diese Lieblingswendung Philos, die sonst zur Bezeichnung der religiösen Begeisterung dient (vgl. Über die Weltschöpfung § 71; All. Erkl. I § 84; Über die Trunkenheit § 147f.; Über die Träume II § 190), bezieht sich hier und All. Erkl. II § 29 in wörtlichem Sinn auf Maßhalten im Weingenuß. [Vgl. darüber Hans Lewy, Sobria ebrietas S. 25–27 Μ. Α.]
  5. Eine ähnliche Polemik gegen äußerliche Askese Über die Nachstellungen § 18f.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Flucht und das Finden. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloFugGermanAdler.djvu/013&oldid=- (Version vom 21.5.2018)