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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

und Mißgestalt, Bequemlichkeit und Anstrengung, Jugend und Alter, Unvermögen und Vermögen, Kraftlosigkeit und Stärke. Und wozu alle Gegensätze aufzählen, da deren Menge doch unbeschreiblich groß, unergründlich ist? 213 Sehr schön lehrt also der Erklärer aller Naturdinge[1] aus Mitleid mit unserer Trägheit und Nachlässigkeit ausführlich bei jeder Gelegenheit, wie auch hier, die gegensätzliche Stellung aller existierenden Dinge, nicht der vollkommen ganzen, sondern ihrer Teile. [p. 503 M.] Denn aus zwei Gegensätzen besteht eine Einheit; wird diese geteilt, so werden die Gegensätze erkennbar. 214 Ist das nicht der Lehrsatz, welchen, wie die Hellenen sagen, der große und bei ihnen gefeierte Heraklit[2] an die Spitze seiner Philosophie gestellt hat und dessen er sich wie wegen einer neuen Erfindung rühmte? Es ist doch eine alte Entdeckung von Moses, daß die Gegensätze aus einem und demselben Ding entstehen und als dessen Teile zu betrachten sind, wie deutlich gezeigt wurde.

[44] 215 Doch das werden wir noch in anderen Schriften gründlich erörtern. Aber auch das Folgende dürfen wir nicht mit Stillschweigen übergehen. Nämlich, die erwähnten Halbierungen ergaben sechs, da drei Tiere in je zwei Stücke zerlegt wurden, so daß der siebente der teilende Logos ist, der die Dreiheiten auseinander rückt und selbst in der Mitte steht. 216 Auf etwas Ähnliches wird, wie ich glaube, auch bei dem heiligen Leuchter ganz deutlich hingewiesen; angefertigt nämlich wurde er mit sechs Röhren, drei an jeder der beiden Seiten, als siebenter steht er selbst in der Mitte, die beiden Dreiheiten voneinander scheidend. Denn „von getriebener Arbeit ist er, ein kunst- und prachtvolles göttliches Werk, aus einem Stück reinen Goldes“ (2 Mos. 25, 36. 38, 13f., 4 Mos. 8, 4). Dann die Eins, die in Wahrheit einzige und unzusammengesetzte, hat aus sich allein und durchaus

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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/58&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
  1. Der Weise ist nach der – wahrscheinlich aus Posidonius geschöpften – Erklärung des Dion von Prusa (12, 47) der wahre Erklärer und Künder der Natur mit Hilfe der Vernunft. I. H.
  2. Schon aus der Erwähnung dieses Philosophen ergibt sich, daß Philo hier in diesem Kapitel (§ 207–213) eine Vorlage exzerpiert, die das heraklitische System und besonders die heraklitische Lehre von den Gegensätzen und ihrer welterfüllenden Harmonie behandelte. Aus derselben Quelle stammt auch Quaest. in Gen. III § 5, wo ebenfalls Heraklit erwähnt ist. Vgl. A. Patin, Heraklitische Beispiele I S. 1ff., ferner Heinze, d. Lehre vom Logos S. 11 u. 226ff. Die Annahme, daß Philo eine jüdische Vorlage benutzt habe (Bousset, Schulbetrieb S. 24), weist Heinemann (MGWJ. 1923, 285) gebührend zurück.