Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler | |
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durch das man diese eher mit Beiträgen unterstützen, als sie zu Schuldnern machen, oder am Ausleihen auf Pfänder hindern sollte? Wer es aber erlaubte, dürfte sich doch nicht über die erzürnen, die das, was sie erhielten, vor dem Termin nicht herausgeben, als ob das gottlose Leute wären. 96 Wer aber sozusagen bis an die Grenzen der Armut selbst kam, verschafft sich der mit dem einen einzigen Lumpen, den er anhat, neue Gläubiger und verzichtet auf das Mitleid derer, die ihn sehen, das Mitleid, das zu Hause, in den Tempeln, auf dem Markte und überall sich über die ergießt, die sich in solcher Not befinden? 97 Jetzt aber sollte er diese einzige Hülle der Scham, die er hatte, mit der er die Geheimnisse der Natur verdeckte, herbeibringen und anbieten! Als Pfand wofür? Für ein anderes, besseres Kleid? Denn an der nötigen Nahrung mangelt es keinem, solange die Quellen sprudeln, die Gießbäche voll sind und die Erde die alljährlichen Früchte hervorbringt. 98 So wäre denn der Gläubiger ein so geiziger oder so sehr roher Mann, daß er einem ein Vierdrachmenstück oder vielleicht noch weniger vorschießen, einem so armen[1] Menschen etwas leihen statt ihm eine Wohltat erweisen, oder ihm sein einziges Kleid als Pfand nehmen will, was man mit anderem Namen richtig „ausplündern“ nennen müßte? Denn nur Plünderer pflegen die Kleider auszuziehen und zu rauben und ihre Besitzer nackt dastehen zu lassen. 99 Warum aber dachte er nur an die Nacht und daran, daß einer ohne Kleider nicht schlafen könne, sorgt aber nicht ebenso für den Tag und dafür, daß der Wachende sich nicht nackt schämen müsse? Oder wird nicht durch die Nacht und die Dunkelheit alles verhüllt, so daß man sich weniger oder gar nicht zu schämen braucht, durch den Tag und das Licht aber enthüllt, so daß man dann um so mehr erröten muß? 100 Warum befahl er nicht, ihm das Kleid zu geben, sondern es ihm wiederzugeben? Denn die Wiedergabe geschieht bei fremdem Gut, das Pfand aber gehört eher dem Gläubiger als dem Schuldner. Und das beachtest du nicht, daß er dem Schuldner, der das Gewand zum Schlafen erhielt, nicht befahl, es bei Tagesanbruch, sobald er aufgestanden ist, auszuziehen und es dem Gläubiger zu bringen? 101 Wahrlich, durch die eigentümliche Ausdrucksweise muß auch der Trägste dazu gebracht werden, an etwas anderes als den Wortlaut zu denken.
- ↑ πενιχρῷ und § 99 ἀνείμονα sind eine Reminiszenz aus Homers Odyssee 3, 348–350.
Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/31&oldid=- (Version vom 7.10.2018)