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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler

ungestört die heiligen Bücher lesen und, wenn etwas nicht klar wäre, es erklären und euch mit der von den Vätern ererbten Philosophie weitläufigst beschäftigen und mit Muße bei ihr verweilen? 128 Nein, ihr werdet das alles hinwerfen und euch aufmachen zur Hilfeleistung für euch selbst, für eure Eltern und Kinder und für das Leben der andern euch Vertrautesten und Liebsten und, wenn man die Wahrheit sagen soll, auch für euer Hab und Gut, damit auch das nicht verschwinde. 129 Und nun bin ich selbst, sagte er, das alles zusammen, was ich euch aufgezählt habe: Sturm, Krieg, Überschwemmung, Blitz, auszehrende und pestartige Krankheit, das Erdbeben, das an dem Feststehenden rüttelt und es aufrührt, eine schicksalhafte Notwendigkeit nicht nur dem Worte nach, sondern deren offenbare, dicht vor euch stehende Macht. 130 Was werden wir nun von einem Manne meinen, der sagt oder auch nur denkt, daß er dies alles sei? Nicht, daß er ein Mensch von ganz unerhörter Art ist? Ist es doch schon etwas in unserer Welt gar nicht Vorkommendes[1] und ein nie dagewesener Frevel, daß nämlich der ganz unglückselige Mensch sich mit dem ganz seligen Wesen zu vergleichen wagte. 131 Würde ein solcher sich es überlegen, Sonne und Mond und die anderen Sterne zu schmähen, [676 M.] wenn etwas von dem, was man sich im Verlaufe der Jahreszeiten erhoffte, entweder überhaupt nicht oder nicht mühelos eintrifft, wenn der Sommer Hitze, der Winter schweren Frost bringt, Frühling und Herbst aber, der eine für die Fruchtbarkeit unergiebig, der andere für die Entstehung von Krankheiten besonders fruchtbar ist ? 132 Alle Segel eines zügellosen Mundwerks und seiner verleumderischen Zunge zieht er auf, um die Sterne anzuklagen, als hätten sie den gewohnten Tribut nicht dargebracht, weil er es für richtig hält, daß von den himmlischen Wesen den irdischen und vor allem ihm selbst um so mehr Ehre und Anbetung erwiesen werde, als er in seiner Eigenschaft als Mensch von den anderen Lebewesen verschieden zu sein glaubt. [19] 133 So werden die Chorführer des leeren Wahnes von uns geschildert, die Choreuten aber wollen wir nun in der ihnen entsprechenden Reihenfolge betrachten. Sie stellen immer denen nach, die sich in der Tugend üben. Wenn sie sehen, wie diese sich bemühen, ihr Leben in untrüglicher Wahrheit erglänzen zu lassen und es gleichsam bis zum Licht des Mondes oder dem reinen Sonnenstrahl zu erhellen, hindern sie sie


  1. Im Text stehen die wörtlich unübersetzbaren Worte: ὑπερωκεάνιον ἢ μετακόσμιόν; ich lese weiter mit Wendland: τι <και> καινὸν κακόν.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/85&oldid=- (Version vom 7.1.2019)