– Am Aralsee (1848) entstand das volkstümliche Lied von zwei Schwestern, die in einen gewissen Iwan verliebt waren. Da Iwan mit ihnen nur scherzte, zwangen die Brüder die beiden Schwestern, Giftkraut zu suchen, womit der leichtsinnige Geselle vergiftet wurde. Reumütig gingen die Schwestern nun täglich zum Grabe, weinend, bis sie sich selbst vergifteten.
„Und zur Warnung stellte Gott sie
auf des Hügels Gipfel
dort im freien Feld als Pappeln.
Und ihr grüner Wipfel
über Iwans Grab am Haine
fort und fort sich bieget.“[1]
Aus diesem Beispiele wie aus der Ballade von der Pappel ersehn wir, daß die ukrainische Volksphantasie so weit ging, sogar Menschen in leblose Gegenstände zu verwandeln. In dieser Zusammengehörigkeit der lebenden Wesen mit der unbeseelten Natur zeigt die slawische Volkspoesie eine gewisse Verwandtschaft oder wenigstens eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Antike.[2] Wunderbar hat Schewtschenko dieses Motiv in der Ballade von dem unglücklichen Mädchen verwertet, das im Schlosse des Gutsherrn von Mordbrennern getötet wurde, aber als eine schneeweiße Lilie wieder auferstand. Dieses Gedicht „Lilie“ (Lileja), in Kiew 1846 geschrieben, lautet:[3]
„Weshalb mochten mich die Menschen,
als ich wuchs, nicht leiden?
Weshalb mußt’ ich, kaum erwachsen,
aus dem Leben scheiden?
Und wie kommt es, daß sie heut mich
Königstochter nennen,
daß von mir sie ihre Blicke
nimmer wenden können,
mich bestaunen und voll Sorgfalt
an das Licht mich tragen?
Blumenkönig, lieber Bruder,
kannst du mir es sagen? –
Alfred Anton Jensen: Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Adolf Holzhausen, Wien 1916, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taras_Schewtschenko._Ein_ukrainisches_Dichterleben._Von_Alfred_Jensen_(1916).djvu/120&oldid=- (Version vom 7.10.2018)