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'Ueber die Gemüthsbeschaffenheit des regierenden Fürsten von Wied-Neuwied': Ueber die Gemüthsbeschaffenheit des regierenden Fürsten von Wied-Neuwied

Ich habe sie vorzüglich einem Manne zu danken, der hier lange, und in Verhältnissen lebte, welche ihm die genauere Kenntnis des Fürsten erleichterten. Was dieser Freund mir entdekt hat, wurde mir hier von mehrern schäzbaren Männern, ja sogar von einigen leidenschaftlichen Anhängern des Fürsten bestätiget.

Man sagt, der berühmte Garrick habe die Kunst besessen, den Anwesenden zugleich eine lachende und eine weinende Gesichtsseite darzubieten. So ohngefähr ist es mit dem Geiste des jezigen Fürsten von Neuwied beschaffen. Von einer Seite betrachtet, scheint er ein ganz ordentlicher Mensch, von zwar gemeinen, aber doch nicht verwirrten Seelenkräften zu sein. Von der andern Seite aber ist das Gepräge einer schweren Gemüthskrankheit so auffallend, daß man Bedenken tragen sollte, ihm die Verwaltung eines Bauerngutes anzuvertrauen. Wenn sein Vater vertrauten Freunden seinen tiefen Kummer über diesen Sohn ausschüttete, erzählte er immer, daß sein verstorbener Leibarzt Kämpf, ein grosser Menschenkenner, ihn am besten beurtheilet habe, indem er gesagt: „Der Erbprinz hat einen Sparren zu wenig, um nach den Gesezen ein Narre zu heissen, und dreie zu viel, um unter die Klugen gerechnet werden zu können.“ – Hélas! il avoit bien raison, le bon Kaempf, sezte er dann seufzend hinzu, il n’avoit que trop raison.[1]

Doch nun zu Thatsachen aus dem Leben des Fürsten! Schon in seiner frühern Jugend bemerkte man eine gewisse Singularität des Geistes an ihm. Er war immer geneigt, eine Sache nur von einer Seite zu sehen, und aller Mühe ohnerachtet konnte man seine Aufmerksamkeit nicht auf die übrigen wesentlichern Theile dieser Sache lenken. Er hatte eine grosse Neigung zur Einsamkeit. Ideen, welche ins Sonderbare und vorzüglich

  1. Die französische Sprache war seine Lieblingssprache.