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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die wir aus unserm Texte noch nicht genannt haben. Denn an fünfter Stelle sehen wir nun vier Tugendblumen paarweise einander gegenüber stehen. Da erzeugt die Liebe zuerst ein süßes, aller Galle und boshaftigen Erregung lediges, allezeit mildes Wesen, denn „sie läßt sich nicht erbittern“, noch viel weniger aber läßt sie sich zur Rache hinreißen, „sie trachtet nach keinem Schaden“; dabei freut sie sich niemals, wenn dem Andern Unrecht geschieht; aber wenn die Wahrheit und Wahrhaftigkeit sieget, da freut sie sich. Gegeneinander über stehen diese vier heiligen Blüthen der Liebe und neigen sich gegen einander, und wenn irgend etwas den Eindruck der inneren Freiheit und Vollendung machen kann, so ist es gewis die Anwesenheit dieses Doppelpaares, das nirgends blühen kann, wo man das Eigne sucht.

 Bis hieher sind wir im Garten der Liebe wie terrassenförmig aufwärts gegangen, von einer Doppeltugend zur Neidlosigkeit, von einem Drei der Tugenden zur heiligen Uneigennützigkeit, und von dieser wieder zum edlen Doppelpaare heiteren, friedlichen, der Wahrheit und Gerechtigkeit allein ergebenen Wesens. Nun aber treten wir auf die höchste Terrasse und hier duften vier edle Blüthen im stillen Vereine, jede unabhängig und groß für sich, jede ein Triumph der höchsten Liebe. Alles tragen, alle Fehler decken, – alles Gute von dem Nächsten glauben, – alles Gute von und für ihn hoffen, – alles glaubend und hoffend für ihn dulden! Also ganz im Nächsten leben, sein Heil schaffen, alles Glück in seinem Glücke finden, in ihm leben und für ihn, alles so anstellen, daß ihm sein ewiges Heil gelinge und seine zeitliche Wohlfahrt, kein Glück bedürfen als fremdes Glück, keine Herrlichkeit als die des Nächsten, selbst gesättigt im Heile Christi, in der Gemeinschaft aufgehen: das ist der Liebe Art und so erscheint ihr schöner Glanz. –

 Meine Brüder, ich habe oben gesagt, man feire das Gedächtnis JEsu, indem man den paulinischen Text von der Liebe lese; da konnt’ es nun zwar allerdings im ersten Theile scheinen, als ließe sich das Gedächtnis JEsu nicht immer anreihen. Das Zungenreden, die Weißagung, die Erkenntnis, der Glaube, das sind lauter Gaben, für welche wir uns Ihn am liebsten als Geber, nicht als den Begabten denken. Weil Er den Geist nicht nach Maßen hat, scheint es uns fast ungehörig, Ihm einzelne Gaben zuzumeßen. Anders wird es bereits bei dem Verse, in welchem der Apostel von Austheilung der Habe an die Armen und von Hingabe des Leibes in die feurige Aufopferung des Todes spricht. Da erscheint uns JEsus, da sehen wir Ihn unter den fünf und viertausenden das Brot brechen in Liebe, in Liebe den eignen Leib als Brot den Seinen austheilen, in Liebe Ihn hangen und verzehrt werden am Kreuz von grimmigen Todesschmerzen. Am allerreinsten und schönsten aber erscheint uns in der Darstellung der mancherlei Liebestugenden JEsu Christi Liebesglanz zu leuchten. So ist Er, so ist Er gewesen und ist noch so, so hat Er um unsre Seele geworben, und alle Worte des zweiten Theiles unsres Textes füllen sich erst mit den rechten Gedanken bei Betrachtung Seines liebevollen Lebens, Leidens, Sterbens, Auferstehens und Seines verklärten Eingangs in den Himmel und Verweilens dortselbst. Und wenn uns auch beim letzten Verse des zweiten Theiles für Seine göttlich klare Hoheit das „Alles tragen, Alles glauben, Alles hoffen, Alles dulden,“ für Ihn gar zu sehnsüchtig, zu schmachtend, zu menschlich, zu hingegeben erscheinen könnte; so müßen wir doch zugeben, daß mit dem menschlich starken Liebesausdruck am Ende der göttlichen Ueberschwänglichkeit Seiner Liebe am meisten die Ehre gegeben wird, und daß uns darin Sein eignes schönstes Bild gezeigt wird und Sein großes Auge voll Liebe anschaut. Ja wahrlich, das ist Liebe, und wenn man sich mit Scham und Bußthränen an diesem Bilde satt gesehen hat, dann ist man am ersten fähig, zum dritten Theile unsres Textes überzugehen und zu lesen, was sich weitaus am paßendsten anreiht, nach so viel schönem: „Die Liebe höret nimmer auf.

 Wie könnte es auch anders sein! Was sollte aus der Liebe schöneres werden? In welchen höheren Zustand sollte sie sterbend übergehen? Nein, es gibt nichts höheres und schöneres; die Liebe hört nicht auf, räumt ihren Platz nichts anderem ein, verwandelt sich auch in nichts anderes, treibt keine höheren Blüthen, ist himmlisches Leben schon auf Erden, kann durch Versetzung in die Ewigkeit nur in so fern schöner werden, als Nebel und Befleckung der Sünde aufhören und damit jedes Hindernis ihres vollkommenen Gedeihens verschwindet. Die Liebe hört nimmer auf und bleibt sich immer gleich.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/173&oldid=- (Version vom 1.8.2018)