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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

I.

 Diese beiden besonderen Ermahnungen des Textes betreffen, wie bereits gesagt, zwei Sünden, welche unter den Griechen allgemein geworden waren, und fast allen bösen Leumund verloren hatten, nemlich die Hurerei und die Betrügerei. – Die geschlechtlichen Verhältnisse waren zur Zeit des neu entstandenen Christentums in Rom und Griechenland, namentlich aber in dem letzteren in eine furchtbare Verwirrung gekommen. Während die Ehe dermaßen gemieden wurde, daß es an Nachkommenschaft mangelte und man fürchtete, das Geschlecht und Volk der Griechen könnte in manchen Gegenden völlig aussterben; während die Ehefrauen und ihre Töchter auf einer niedrigen Bildungsstufe stehen blieben und verachtet waren; so waren im Gegentheil die Häuser öffentlicher Buhldirnen Vereinigungsorte und Sammelpunkte für die angesehensten Männer und Jünglinge, und diese Buhlerinnen selbst glänzten in der Gesellschaft nicht blos durch leibliche Eigenschaften, sondern auch durch hohe Bildung. Fast niemand schämte sich der Buhlerei und Hurerei, keiner rechnete dem andern dahin gehörige Sünden zur Schande an. Und noch verbreiteter fast als die natürliche Wollust der beiden Geschlechter unter einander, waren jene heillosen unnatürlichen Sünden und Lüste, welche Personen desselben Geschlechtes unter einander übten, und die wir im Briefe Pauli an die Römer mit Schmach und Schande aus dem Heiligtum Gottes belegt sehen. Scham war dahin, eine allgemeine Abstumpfung rücksichtlich der Fleischessünden war in einem solchen Maße vorhanden, daß auch denjenigen Griechen, welche Christen geworden waren, immer auf’s neue die apostolische Ermahnung zu einem keuschen und züchtigen Wandel nöthig war. Man müßte keine Augen haben und keine Ueberlegung, lieben Brüder, wenn man sich nicht aus dem, was die Schriften des Neuen Testaments über die apostolischen Gemeinden sagen, die Ueberzeugung schöpfte, daß jene Gemeinden groß und reich gewesen seien, nicht blos an außerordentlichen Gaben des heiligen Geistes, sondern auch an den ordentlichen und deren treuer Benützung, an Fortschritten der Heiligung, an Glanz und Menge guter Werke. Eine Vergleichung der jetzigen Gemeinden mit den ersten wird immer nur zu unserm Nachtheil ausschlagen können: wir müßen uns schämen, den ersten reicht Wahrheit und Gerechtigkeit die Palme. Desto mehr aber muß man sich wundern, wenn wir die Gemeinden der ersten Zeit so ernst und dringend gerade vor denjenigen Sünden gewarnt sehen, die unter allen die schnödesten und schmählichsten genannt werden können, und wir würden das gar nicht begreifen, wenn wir nicht eben wüßten, wie scham- und schandelos diese Sünden in die Völker eingerißen, herrschend und allgemein geworden waren. So schlimm es auch in unsern Zeiten bereits wieder geworden ist, und zwar gerade in Anbetracht der Sünden, die wir meinen, so liegt doch Gottlob bei uns noch aller Welt Schmach und Schande über diesen Sünden, und wir haben keinen Begriff mehr davon, was für ein Dornenland das Evangelium an den griechischen und römischen Heidenvölkern zur Zeit Christi zu bearbeiten fand. Daß es noch einmal anders wurde, daß auch unter diesen Völkern die gerügten Sünden wieder zur Schande wurden, das Gewißen wieder für sie erweckt wurde, das Gegentheil derselben wieder zu Ehren kam, ist ein großer Sieg des Christentums und ein tatsächlicher Beweis, daß dem Geiste Gottes alles möglich ist, daß der gute Hirte auch die verlorensten Schafe zu Sich und Seiner Heerde bringen kann. Es ist aber auch ein Beweis und eine Frucht von der Arbeit der heiligen Apostel und von ihrem unverzagten Gemüthe voll Liebe und Hoffnung zu den Verlorenen, und ein anziehendes, ermunterndes Vorbild für die Lehrer und Prediger jetziger Zeiten, denen oft Hoffnung und Glaube ausgehen möchte, ob wohl unser Volk bei dem grauenvollen Ueberhandnehmen der Fleischessünden und dem sich täglich mindernden Grauen vor denselben noch beßere Zeiten haben und finden werde und nicht vielmehr in Baldem dahin fahren dieselbe Straße, auf der die Völker des Morgenlandes nach großem Aufschwung in Christo JEsu am Ende doch in Barbarei, in zeitliches und ewiges Verderben dahin gefahren sind.

 Der Apostel Paulus verlangt in seiner heiligen Vermahnung an die Thessalonicher stufenaufwärts dreierlei. Erlaubt mir, daß ich euch die ganze Stufenleiter eröffne, und denket dabei bereits an dasjenige, was derselbe Apostel auch von euch und euren Kindern verlangt. Vergeßet auch nicht, daß mein Ausdruck „der Apostel verlangt von euch“, in vollem Ernste

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/189&oldid=- (Version vom 1.8.2018)