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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

das zur Knechtschaft gebieret, welches ist die Agar. 25. Denn Agar heißt in Arabien der Berg Sinai, und langet bis gen Jerusalem, das zu dieser Zeit ist, und ist dienstbar mit seinen Kindern. 26. Aber das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie, die ist unser aller Mutter. 27. Denn es stehet geschrieben: Sei fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierest, und brich hervor, und rufe, die du nicht schwanger bist; denn die Einsame hat viel mehr Kinder, denn die den Mann hat. 28. Wir aber, lieben Brüder, sind Isaak nach der Verheißung Kinder; 29. Aber gleichwie zu der Zeit, der nach dem Fleisch geboren war, verfolgte den, der nach dem Geiste geboren war; also gehet es jetzt auch. 30. Aber was spricht die Schrift? Stoß die Magd hinaus mit ihrem Sohn; denn der Magd Sohn soll nicht erben mit dem Sohne der Freien. 31. So sind wir nun, liebe Brüder, nicht der Magd Kinder, sondern der Freien.


 DAs heutige Evangelium erzählt die Speisung der fünftausend Mann. Mitten in der Fastenzeit liest man von der vergnügten, seligen Speisung, bei welcher der HErr nicht allein selbst Speisemeister war, sondern wie öfter, so wieder einmal Speise und Speisung zu Ehren brachte. Die Alten wußten wohl, daß man mit gesalbtem Angesichte fasten sollte, aber nichts desto weniger war ihrem Leibe das Fasten eine Aufgabe, die sie zwar muthig und freudig übernahmen, über deren allmählich sich vollendende Lösung aber sie auch vergnügt und froh waren. Daher war ihnen der Sonntag Lätare, der auf die Hälfte der Fastenzeit folgt, ein angenehmer Tag, und ihre Freude trat in dem Introitus des Tages stärker hervor, als an den andern Fastensonntagen. War doch die Hälfte der Aufgabe gelöst, schürzte man sich doch desto fröhlicher zur zweiten Hälfte. Da paßt denn auch die Geschichte der Speisung so schön und kaum ist in derselben der sonst so ernste Ton der Fastenevangelien bemerkbar. Nichts stört den freudigen Eindruck, es müßte denn sein, daß der kundgegebene Entschluß der gespeisten Menge, den HErrn zum König zu machen, aus jenem elenden Zustand des damaligen jüdischen Volkes erklärt würde, kraft deßen ihre Seelen, voll Aufruhrgedanken gegen die Römer, voll Begierde nach einem irdischen Weltreich Israel, also auf dem Abweg vom rechten Wege und in derselben Blindheit dahin giengen, die hernach den HErrn der Herrlichkeit gekreuzigt hat. Das Evangelium paßt übrigens aus noch einem Grunde sehr wohl in diese Zeit. Die Geschichte der Speisung fiel nemlich nach dem vierten Verse des sechsten Kapitels Johannis in die Nähe des Osterfestes; wir aber sind auch in die Nähe des Osterfestes gerückt. Dazu erinnert die Geschichte der leiblichen Speisung schon um des Zusammenhangs willen mit den herrlichen Reden, die JEsus nach derselben gehalten hat, stark an das heilige Abendmahl, deßen erste Feier und Einsetzung bekanntlich mit dem Passahfeste der Juden und mit den Leiden unsers HErrn JEsu Christi zusammenfällt.

 So herrlich nun aber das Evangelium in die Zeit paßt, eben so vortrefflich paßt auch die Epistel hinein. Es ist eine recht paulinische Epistel; und wenn man es faßen will, warum die Juden und ein Theil der Judenchristen den heiligen Apostel so sehr haßten, so kann man den Aufschluß aus unserm Texte bekommen. Da klafft der Unterschied zwischen Judentum und Christentum, zwischen dem irdischen, jüdischen Jerusalem der apostolischen Zeit und dem oberen himmlischen Jerusalem, der Mutter von uns allen. Da heißt das Judentum: Hagar und Ismael, die christliche Kirche aber: Sara und Isaak. Alle Verheißungen, die Sara und Isaak gegeben sind, werden dem Christentum zugeeignet, das Judentum aber als Hagar und Ismael ausgetrieben; die christliche Kirche erscheint in ihrem Siege über das Judentum. In der Fastenzeit diese Epistel! Da sieht man, daß die alte christliche Kirche bei ihrem strengen Fasten, das manchen in unsern Tagen wie rein gesetzlich erscheint, dennoch in der Freiheit gieng, nicht judaisiren wollte, daß ihre Passionsfeier im Sack und in der Asche die Frucht ihres freien Willens und Entschlußes gewesen ist, und daß man sich durch die ernste Feier, durch Buße, Mildthätigkeit und Enthaltung nur auf eine würdige Weise für das Osterlammsfest des Neuen Bundes und für den Eingang in eine Freiheit bereiten wollte, von welchem der Auszug aus Egypten und der Einzug in’s heilige Land die gesegneten Vorbilder waren.

 So wie nun das Evangelium auf die Freuden, so deutet die Epistel auf die Freiheit des nahenden Osterfestes, beide Texte auf die königliche Herrlichkeit des Abendmahles und auf die Herrlichkeit der Kinder Gottes, die nicht aus dem Gesetze, sondern

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/205&oldid=- (Version vom 1.8.2018)