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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Er gezeuget hat von Seinem Sohne. 10. Wer da glaubet an den Sohn Gottes, der hat solches Zeugnis bei Ihm. Wer Gott nicht glaubet, der macht Ihn zum Lügner; denn er glaubet nicht dem Zeugnis, das Gott zeuget von Seinem Sohne.


 DAs heutige Evangelium erzählt uns die beiden feierlichen Offenbarungen, welche unser HErr am Abend des Ostertages und am Sonntag nach Ostern Seinen Jüngern gewährte. In beiden zeigt Er sich ihnen nicht bloß, sondern Er gibt ihnen auch Zeugnisse und Beweise von der Wahrhaftigkeit Seiner Auferstehung und der Gewisheit, daß Er in keinem anderen Leibe vor ihnen stehe auferstanden, als in welchem Er am Kreuz gehangen und gestorben war. Der Beweis Seiner Auferstehung ist es also, welcher im evangelischen Texte hervortritt. An die Seite dieses Evangeliums hat die Kirche als Epistel jenen wunderbaren Abschnitt aus dem fünften Kapitel des ersten Briefes Johannis gestellt, deßen gesammter Hauptinhalt von dem Zeugnisse handelt, welches Gott der HErr Seinem eingeborenen Sohne im Himmel und auf Erden gibt. So stimmt also das Evangelium mit der Epistel in Einem heiligen Zweck zusammen, nämlich von dem auferstandenen, auf Gottes Thron erhobenen, für uns ewig lebenden Erlöser solche Zeugnisse und Beweise zu geben, daß die Gemeinde in ihrem Glauben an ihren HErrn und Heiland tief gegründet werden und in demselben großen Frieden und große Freude finden kann. Der Einklang des göttlichen Wortes wirke in unseren Herzen also, daß wir ohn’ allen Widerspruch und Zweifel einmüthig und einhellig anbeten den Vater und den Sohn und Ihm aus der Tiefe befriedigter und wonnevoller Seelen das österliche Halleluja erschallen laßen.

 Wenn wir uns nun dem epistolischen Texte selbst zuwenden, so wird uns auch bei kleiner und kurzer Ueberlegung die Ueberzeugung kommen, daß wir hier eine Lection vor uns aufgeschlagen haben, deren Verständnis auch über das Maß der gläubigen Vernunft hinausliegt. Johannes hat den Adler zum Sinnbild, sein Blick und Auge dringt in sonnenhelle Höhen, in welche wir ihm nicht nachfolgen können, und sein Flug ist eben so hoch und kühn als er einfach ist. Mit staunendem Auge verfolgt man ihn, mit verwunderungsvollen Ohren hört man den Klang des Flügelschlages: wer aber vermag es, mit dem Geiste ihm nachzugehen und die Worte auszulegen, welche er redet? Hie ist nicht die Sprache eines Lehrers, sondern die Rede eines Offenbarers Gottes und Seiner Geheimnisse, eines Propheten, der an dem, was der Geist durch ihn spricht, selbst zu lernen hat und zu deuten. Ob wohl hier jemand also zu deuten vermag, daß man die Deutung tief und eingehend nennen könnte? Ob hier nicht jeder betrachtende Geist zugeben muß, nur gleich einem Schwimmer auf der Oberfläche dieses Meeres sich zu bewegen oder nur mit jener Schale zu schöpfen, mit welcher der Engelknabe im Traum des heiligen Augustinus den Ocean erschöpfen zu wollen vorgab?

 Im Allgemeinen läßt sich freilich der Text gar leicht theilen. Die beiden ersten Verse handeln vom Glauben und seinem Siege, die anderen Verse alle reden vom Zeugnis Gottes, aus welchem der Glaube geboren wird. Wie einfach ist das und wie leicht scheint man hier dem einfachen Fluge des Adlers folgen zu können! Und doch ist es, meine lieben Brüder, wie ich sagte: der Adlerflug ist hoch und kühn, wie er einfältig ist.

 Die Briefe der heiligen Apostel sind keine Lehrbücher, sie dienen praktischen Zwecken und verfolgen das Heil der Gemeinden, an welche sie gerichtet sind: die Lehre schließt sich dem Fall an, der sie hervorruft, und daher kommt es, daß wir bei den Vorträgen, welche wir über die Texte zu halten haben, für uns und unsere Bedürfnisse zuweilen eine andere Anordnung der Gedanken wählen, hie und da auch wohl zum Heile der Gemeinde wählen müßen, als der Apostel bei der Absicht, welche er hatte und verfolgen mußte. Wie manchmal ist im Texte der erste Theil ein Satz, eine Behauptung, während der zweite die Begründung enthält. Da können wir den zweiten Theil zum ersten, zum Grund des Ganzen machen, den ersten aber zum zweiten, zu Schluß und Folge des andern. Damit verkrümmen wir nichts, aber wir schlagen für den Hörer einen Weg ein, dem er zuweilen leichter folgen kann als jenem hohen, und in den Bedürfnissen der ersten Gemeinden gegründeten Gedankengang der heiligen Apostel. Das sei

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/259&oldid=- (Version vom 1.8.2018)