Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/283

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

durch den Hauch Seines Mundes und das Wort Seiner Rede, so laßt uns mit Freuden hineingehen in den blühenden, frühlingsmäßigen Pfingstgarten unserer Epistel; der HErr aber sei mit uns und schenke uns alles, wovon Er redet, und gebe uns, was Er verheißt.

 Schon in der bisher gesprochenen Einleitung konnte ein aufmerksamer Hörer bemerken, daß unser heutiger epistolischer Text in drei Theile zerfällt. Die beiden ersten Verse wehren eine gefährliche Meinung von dem Wege des Christen ab, eine Meinung, die wir sammt der Abwehr im ersten Theile unsres Vortrags ins Auge faßen müßen. Der nächstfolgende dritte Vers des Textes, der achtzehnte des Kapitels, zeigt uns, wie schon gesagt, die Herrlichkeit der neuen Creatur aus Gott. Die drei letzten Verse, Vers 19–21, zeigen uns heilige Folgen und Absichten Gottes bei unserer neuen Geburt auf dem Gebiete unserer Heiligung. Laßt uns nun diese drei Theile mit einander betrachten, wo möglich einen jeden nach dem Maße, welches der Text selbst einhält, so daß wir nicht einen jeden Theil wie nach der Elle gleich zu machen suchen, sondern die von uns gemachte Eintheilung nur treu benützen, den Gedankengang des Apostels desto leichter zu bemerken und zu behalten.


 Da geht ein Mensch dahin auf der Straße, unversehens fällt er und beschädigt sich. Was pflegt man einem solchen zum Troste zuzurufen? Man ruft ihm zu: das ist vom HErrn, ohne Deßen Willen kein Sperling vom Dach, ja kein Haar vom Haupte fallen kann. Da geht ein anderer, nicht die gepflasterte Straße, aber seinen Lebensweg dahin; eine Weile geht er sacht und gerad und still, richtig und unsträflich; aber noch eine Weile, und siehe, der Ruhm ist aus, der schöne Anfang ist zum häßlichen Ende gekommen, ein Sündenfall ist geschehen, die sittige Tochter ist zur Hure, der scheinbar ehrenfeste Sohn zum Verführer, der fromme Mann zum Ehebrecher geworden u. s. w. Was sagt nun in solchem Fall kein Pfarrer, wohl aber eine Stimme im eignen Herzen, eine verführerische, gleißende? Sie sagt: Ohne Gottes Willen ist nichts; so wenig du ohne den Willen Gottes fallen und ein Bein brechen kannst, eben so wenig kannst du ohne Seinen Willen in eine Sünde fallen; deine Sünde ist Gottes Wille. – Schauderhaftes Wort! heilloser Widerspruch: die Sünde – Gottes Wille! Aber sollte mans glauben, diese Stimme kann Gehör finden bei den Gefallenen, und die vernünftige Menschenseele, welche sonst den Widerspruch so sehr scheut, es für die größte Schande hält, sich selbst zu widersprechen, kann ihre Ruhe in einem Gedanken suchen, ja gar zu finden und zu haben glauben, der Gott mit Sich Selbst in Widerspruch setzt! Es sind zwei verschiedene Reiche, das Reich der Natur und das sittliche Reich der Geister und Seelen; in jenem herrscht Gottes Machtgebot, in diesem aber ist Gottes heiliger Wille nicht unwiderstehlich, sondern der Geist, die Seele, welche es wagen will, kann Trotz bieten dem Allmächtigen und nein sagen zu Dem, Des Wille allein heilig und gut ist. Denn das eben war der Triumph des Schöpfers in Seiner Schöpfung, daß Er außer Sich Wesen schuf und schaffen konnte, denen ein selbständiger Wille beigelegt war, die sich in freier Neigung dem Willen ihres Schöpfers anschließen oder ihm widerstreben konnten. Und wenn auch die Menschenseele zur Strafe des ersten Falles in eine Bahn der Abneigung von Gott hineingetrieben ist, auf welcher sie sich selbst überlaßen, nur dem Verderben zueilen kann, so hat sie doch eine Wißenschaft davon, daß es einst anders mit ihr stand und annoch anders mit ihr stehen sollte, daß sie nicht eine Sklavin des Bösen, sondern eine Herrin darüber sein sollte und eine Meisterin im Guten. So oft daher einer auch in die Sünde dahin falle und so sehr er das Sündenleben gewohnt werde, so bleibt doch immer in der Seele dieselbe Stimme der Selbstanklage: „Du hast nicht anders gewollt“. Niemals findet im Herzen die Entschuldigung Glauben: „du hast nicht anders gekonnt“; das Herz wird nicht ruhig und der Geist nicht zufrieden, der es versucht, sich wie einen Stein oder einen andern irdischen Körper auf die Bahn der allmächtigen Nothwendigkeit zu werfen. Ganz dasselbe ist es mit dem Versuche, einen Sündenfall als Gottes Willen hinzustellen. Gott verbeut die Sünde, Gott droht ihr zeitliche und ewige Strafen, Er zürnt ihr und um ihretwillen den Uebelthätern, und Er soll sie wollen? Er will sie nicht; Er läßt Sich

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/283&oldid=- (Version vom 1.8.2018)