Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/291

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

er träumt von Morgen- und Lebenswind, aber siehe da, er bleibt der Alte, und unverändert kommt er aus jeder Predigt heim. Er geht zur Kirche in der Meinung, seiner armen Seele zu nützen; anstatt des Nutzens aber zieht er einen Schaden, denn seine leichtfertige Seele gewöhnt sich an den Schall des göttlichen Wortes, wird taub und hart, blind und verstockt, und reift der fürchterlichen Enttäuschung der Verdammnis entgegen. Das ist die Lebens- und Todesgeschichte von Tausenden und aber Tausenden. Der Betrug ist so offenbar und augenfällig, daß man nicht begreift, wie ein einziger Mensch in demselben untergehen kann, und doch gehen so unzählig viele unter. Die Warnung ist so begründet und leicht faßlich, und der Fehlgriff so grob, daß man denken sollte, es sei nichts leichter, als einen Sünder von diesem Traume aufzuschrecken; dennoch aber wird der Posaunenstoß, der zum Aufbruch mahnt, nicht vernommen, und der erbärmliche Selbstbetrug, welchen man seiner Seele nicht einen Augenblick spielen sollte, Jahre und Jahrzehnte lang von ganzen Heerschaaren fortgesetzt. Das leichtsinnige Hören ist auch ein Leichtsinn, der Leichtsinn aber macht schon seinem Namen nach einen Eindruck, wie wenn er eines kurzen Lebens wäre; aber siehe, das ist Täuschung, der Leichtsinn ist ein andauernder Zustand wie ein anderer, nur daß er sich und andern immer Glauben macht, als sei seine Zeit bald vorüber, als müßten bald beßere Zeiten kommen. So dauert der gefährliche Leichtsinn an, der arme, betrogene Mensch aber wähnt immer, er gehe vorüber.

.

 Dem großen Selbstbetruge des leichtsinnigen Hörens gegenüber steht ein beßeres, fruchtbares und seliges Hören. Der heilige Schriftsteller bleibt bei seinem Gleichnis vom Spiegel, von dem er aber nun eine andere Benützung zeigt. Ein Mann geht vor dem Spiegel vorüber, den man sich liegend denken muß, nicht stehend, wie unsere Spiegel zu sein pflegen. Er sieht sein Angesicht, der Blick in den Spiegel feßelt ihn, er beugt sich über den Spiegel hin um sich recht zu sehen, er lernt im Spiegelbild seine wahre Gestalt kennen, sieht seine Flecken und Mängel, reinigt sich, nimmt eine beßere Haltung an, und kurz, die Bekanntschaft, die er mit sich selbst im Spiegel macht, hat eine heilsame Wirkung, indem er, von seinem Auge belehrt, nun manches an sich ändert und beßert, was er ohne den Spiegel gar nicht einmal wargenommen haben würde. So weit das Bild. Nun aber die Deutung. Der Spiegel ist das Gesetzbuch Gottes, oder kurzweg das Wort Gottes, welches St. Jakob vollkommen und ein Gesetz der Freiheit nennt, vollkommen, weil es von dem vollkommenen Meister stammt, der in der Höhe wohnet, ein Gesetz der Freiheit, weil es die Absicht hat, den Menschen von aller Sclaverei eines bösen Willens zu einem fröhlichen, freudigen Gehorsam gegen Gott zu bringen. Wer das Gesetz Gottes nur oberflächlich hört und das Wort alten oder neuen Testamentes nur mit leichtsinnigem Ohre auffaßt, dem thut es weiter keinen Dienst, als ihm sein flüchtiges Bild entgegen zu werfen. Wer aber das göttliche Wort benützt, um zunächst sein eigenes Bild, das es ihm zeichnet, genauer kennen zu lernen; wer sich gewißermaßen darüber hinbückt wie über einen alterthümlichen Metallspiegel, um sich selbst recht genau der Wahrheit gemäß kennen zu lernen; wer den Fleiß und die Beständigkeit nicht scheut, sondern mit allem Ernste in Gottes Wort sich kennen zu lernen sucht: der kommt nicht bloß zur richtigen Ansicht von sich selbst, zur Demuth und wahrhaftigen Erkenntnis seiner Sünden, sondern seine Reue wird thätig und wirkt Beßerung, sogar schon, bevor er in das volle Glaubensleben eintritt. Manche Untugenden verschwinden, manche Fehler hören auf, er tritt unvermerkt in den Stand eines Thäters des Wortes und guter Werke ein, und die Erneuerung und Beßerung, welche er im Glauben an JEsum Christum wirkt, macht ihn nun so selig und fröhlich, daß St. Jakobus nicht umsonst von ihm geweißagt hat, er wird selig sein in seiner That. Die rechte Schriftbetrachtung führt zum Leben, eine oberflächliche Betrachtung aber hat ihre großen Gefahren, zu Tod und Verstocktheit zu führen. Das Wort Gottes führt die Seinen nicht bloß zu einem schulmäßigen Wißen, sondern auch zu einem seligen Thun, und macht sie zu frohen, freien Leuten, die bei ihrem Thun und Laßen ein inneres Genügen und eine Freude haben, von welcher der nichts weiß, der Gottes Weg nicht geht. Da sehen wir also, wie aus dem Hörer ein Thäter wird, und wie er zum Gesetz der Freiheit

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/291&oldid=- (Version vom 1.8.2018)