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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der äußerlichen die innerliche Wirkung des hohen Ereignisses beschauen, welches den Pfingsttag kennzeichnet. Diese innerliche Wirkung schloß sich eng an die äußere an, wie uns das der sechste und die folgenden Verse des Textes lehren. Die zusammengeströmte Menge drängte sich in den Versammlungsort der gesegneten Gemeinde Christi, lautlos, wie es scheint, und in tiefer Stille, denn sie vernahmen ja die Reden der Heiligen, und zwar welch großes Wunder, ein jeder hörte sie mit seiner Sprache reden. Wenn man dies im sechsten Verse liest, kann man auf den Gedanken kommen, das Wunder sei mehr im Ohr der Hörer, als an der Zunge der Redenden geschehen. Jeder hörte sie ja mit seiner Sprache reden. Allein diese augenblickliche Täuschung verschwindet auf der Stelle, sowie man sich erinnert, daß im vierten Verse die Worte stehen: „Sie fiengen an mit anderen Zungen zu reden.“ Diese deutliche Stelle gibt dem weniger deutlichen sechsten Verse Licht und Maß. Halten wir nun aber demgemäß fest, daß die Menge der Hörer die verschiedenen Sprachen vernahmen, weil sie in dieser Verschiedenheit gesprochen wurden, so werden wir uns den Vorgang nicht so denken dürfen, als hätten die versammelten Jünger Christi allezumal gleichzeitig und zwar in verschiedenen Sprachen geredet. Wäre es so gewesen, so hätten wir damit ein Bild der Unordnung und Verworrenheit, statt daß mit diesem Ereignisse alle Verwirrung der Verhältnisse dieser Welt sich in eine heilige Einigkeit aufzulösen beginnen. Wenn der heilige Paulus in seinen Briefen an die Corinther Gott einen Gott der Ordnung nennt und will, daß alles herrlich und ordentlich zugehen solle; wenn er befiehlt, daß nicht mehrere Zungenredende oder Propheten gleichzeitig sprechen sollen, so ordnet er damit an, was und wie es der Geist der Ordnung am ersten Tage der Pfingsten gewislich auch geordnet und gewirkt hat. Es wurde von den heiligen Jüngern in vielerlei Sprachen geredet, daher ohne Zweifel keiner der Redner sehr lang reden konnte. Wenn jeder seine Sprache hören sollte, so mußten sich die Redenden mit großer Behendigkeit und in einer Ordnung ablösen; ohne Behendigkeit und Ordnung, bei Stocken und gleichzeitigem Reden würde niemand Klares und Deutliches, niemand seinen eigenen Dialekt vernommen haben. Ein jeder Redner redete in Einer Sprache, je nachdem ihm der Geist gab auszusprechen; einer redete nach dem andern; eine große Mannigfaltigkeit der Reden entwickelte sich. Aber alle stimmten dem Inhalte nach harmonisch zusammen und besprachen ein einziges Thema, die großen Thaten Gottes, die in der letzten Zeit geschehen waren. Da war denn das Erstaunen der Zuhörer ein steigendes, wie so ein heiliger Redner nach dem andern in einer andern Sprache redete und ein Hörer nach dem andern seine heimathliche Sprache hörte. Um diesen Juden aus aller Welt verständlich zu werden, hätten am Ende die heiligen Redner vielleicht nur jüdisch reden dürfen; aber es galt ja nicht, die versammelte Judenschaft zu überzeugen, daß der Geist ihre Sprache führen wollte, sondern es sollte ja im Gegentheil die Offenbarung gegeben werden, daß die großen Thaten Gottes unter allen Völkern, in allen Sprachen erschallen sollten. Darum mußten die aus allen Gegenden zusammengekommenen jüdischen Männer nicht die Sprache ihrer palästinensischen Heimath, sondern aller Welt Sprachen hören, und die Einigkeit des Geistes mußte in der Mannigfaltigkeit der Zungen desto glänzender hervortreten. Als nun die Versammelten diese Einheit und Mannigfaltigkeit inne wurden, geriethen sie wie außer sich und verwunderten sich hoch. Es wurde kund, daß diejenigen, die da redeten, Galiläer waren, also aus einem Volke, dem man außer seinem eigenen kenntlichen Dialekte keinen andern Dialekt, geschweige eine andere Sprache der Welt zutraute. Dennoch aber hörten sie diese ungelehrten Leute in allen Dialekten und Sprachen der Welt reden, in allen Sprachen Europas, Asias und Afrikas, wie sie von Semiten, Hamiten und Japhetiten gesprochen wurden. Die Rede, die aus dem Munde der Zuhörer aufgezeichnet ist, gibt ein Verzeichnis aller der Länder und Völker, deren Sprache durch einen heiligen Redner vertreten war. Dieses Verzeichnis hält einen bestimmten Gang ein, und wer sich die Mühe geben wollte, nachzuforschen, welche Sprachen in diesen bezeichneten Landen und unter diesen Völkern zu jener Zeit gesprochen worden seien, der würde die größte Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit finden. Es wäre wohl möglich, daß gerade in diesem Kranze von Ländern und Völkern und Sprachen, welche angeführt werden, eine besondere Absicht Gottes verborgen läge und daß sich so Land an Land und Sprache an Sprache recht bedeutsam angereiht fände. Für uns aber reicht es

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/315&oldid=- (Version vom 1.8.2018)