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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

hin, das Erstaunen der hörenden Schaar zu deuten und die Bemerkung zu machen, daß man sich bei Anführung der Völker und Sprachen geistiger Weise auf demselben Gebiete befindet, von welchem und auf welchem sich die alte babylonische Sprachverwirrung verbreitete. Jene Völker hatten nicht allein mancherlei Sprache, sondern auch mancherlei verschiedenen Sinn, und sie verstanden einander nicht bloß deshalb nicht, weil sie anders redeten, sondern auch deshalb, weil sie anders gesinnt waren und zu denken pflegten. Nun aber begann eine Einigung, und wenn auch nicht alle Völker zu einerlei Sprache und Rede gerufen und geführt werden sollten, so begann doch das Evangelium wie Ein heiliger Same der Einigkeit und Einheit in allen Sprachen niedergelegt, allen Sprachen einerlei Sinn gegeben und damit die hauptsächlichste Bedingung zur Einigkeit hergestellt zu werden. Es begann ein Werk der Vereinigung, das seit dem nicht mehr geruht hat. Ein Evangelium wird allen Völkern gepredigt, alle Völker zu Einer Kirche gerufen und die Willigen unter ihnen gesammelt, in der Verwirrung der Welt ein heiliges, seliges, zum Genuße der tiefsten Einigkeit berechtigtes und begabtes Reich aufgerichtet. Ein Vorspiel, ein Pfand und Angeld des ewigen Reiches Gottes wird gestiftet, ist seitdem gestiftet, wächst und verbreitet sich trotz aller Hindernisse und trotz alledem, was man dagegen sagen mag, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahrhundert zu Jahrhundert und bis der HErr wiederkommt, fort. Ueberlegen wir das, so wird die innere Wirkung des Pfingstfestes sich bis auf uns erstrecken, Staunen und Verwunderung über die größte und gewaltigste That Gottes wird auch uns ergreifen.

 Staunen und Verwunderung, das war die Wirkung der unverstandenen That des HErrn auf die Menge der Zuhörer. Zu erklären aber wußten sie sich die Sache nicht. Einer sprach zum andern: was will das werden? Etliche griffen in der Verlegenheit, sich die Sache zu deuten, zu einer Aeußerung, die wir vielleicht geneigt wären, rein als ungeziemend, ja als abgeschmackt zu verwerfen, wenn nicht der heilige Apostel Petrus sie in allem Ernste beantwortet und ihr eben damit einen höheren Werth beigemeßen hätte. Sie deuteten die süße Entzückung der Jünger mit Absehen von alle dem, was damit nicht erledigt sein konnte, als eine Wirkung des süßen Weines, obwohl sie sich selber sagen konnten, was ihnen hernach Petrus sagte, daß die Tageszeit für einen Weinrausch noch zu früh war. – Hier, meine lieben Brüder, schließt unser heutiger Text. Gerade da bricht er ab, wo die Erklärung des heiligen Petrus beginnt in das verlegene Erstaunen der hörenden Menge Licht zu bringen. Die Kirche, deren Kinder ja vorne herein nicht in der Verlegenheit jener Menge sind, da sie von Jugend auf die erste Rede Petri gelesen und gelernt haben, hat unbedenklich die eigentliche große Gottesthat dieses Tages zur Lection verordnen und hoffen können, daß durch den Anfang die ganze Geschichte und der ganze Verlauf des Tages in die Erinnerung gerufen werden würde. Ja, es konnte ihr am Ende weniger an der allbekannten Erklärung der Thatsache liegen, als an dem Erstaunen und der Verwunderung, welche beide uns armen Leuten durch die Bekanntschaft mit der Sache von Jugend auf abzugehen und zu verschwinden pflegen. Es geht hier wieder, wie der große Kirchenvater Augustinus sagt und wir schon öfter bemerkten: Gottes Werke werden dadurch gemein, daß man sie immer hat oder sieht. Es ist auch gar keine Frage, meine lieben Brüder, daß man uns am Pfingsttage nichts Beschämenderes sagen kann, als daß wir über Gottes große That nicht einmal mehr erstaunen, noch uns verwundern, und daß uns bei unserer großen Kühle, ja Kälte kaum etwas mehr zu wünschen sein dürfte, als das heilsame Erstaunen und die Verwunderung, deren die Pfingstgeschichte so würdig ist, und die sie in der That auch jetzt noch ganz leicht erzeugen könnte. Auch wenn wir gelesen haben, was St. Petrus zur Erklärung der Geschichte sagt, bleibt doch noch alles so völlig Wunder, daß man sich auch heutiges Tages verwundern sollte, und alles ragt so weit über menschliches Maß und Verständnis hinaus, daß einem die eigene Kleinheit und Geringheit gar wohl zum Bewußtsein kommen könnte. Wir müßen die Bewunderung eben erst wieder lernen; was der Natur der Sache nach unmittelbarer Eindruck sein sollte, so oft wir den heutigen Text lesen, das wird unter unseren Umständen eine Art von Kunstprodukt, der Erfolg einer richtigen und zweckmäßig angestellten Betrachtung. –


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/316&oldid=- (Version vom 1.8.2018)