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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Seinen Abend. So hatten Seine Jünger nicht gedacht. Seine Wege, Seine Todeswege unterbrechen ihre Gedanken, ihre Lebensplane. Sie sträuben sich, Seine Reden aufzufaßen, – sie wollen so nicht. Ehe Er von Seinem Ende gesprochen hat, war schon ihr Urtheil fertig, wie es mit Ihm gehen sollte. – O die Vorurtheile, o der Fürwitz, was haben diese schon in der Welt gesündigt und verschuldet! – „Ich habe mirs ganz anders gedacht“, sprichst du, – und weil es anders kam, als du dachtest, weil du dich auf einer Selbsttäuschung erfandest, darum verlierst du Aug und Empfänglichkeit für die Wahrheit, so wie sie ist, – ja, du wirst der nicht erkannten Wahrheit feind, weil du ahnest, daß sie dich Lügen straft. – Du hast im Christentume etwas ganz anderes gesucht, als du findest – oder zu finden wähnst. Du suchtest ein Land, wie Gosen, wo mans zeitlich gut hat, wenn alle Welt leidet, – eine anfechtungslose, immer gleiche Seelenstille, ähnlich jener Stimmung, die auf freien Bergen unter dem blauen Himmel bei schönen Lüften den müden Wanderer überrascht, und nun findest du an der Pforte des Christentums den Gekreuzigten und auf dem schmalen steilen Wege hinter der Pforte lauter Kreuzträger, und unter allen Christen ist keiner, der nicht sein Kreuz auf sich nehmen und dem HErrn so nachfolgen müßte! So ganz verschieden hievon war dein Vorurtheil, daß du mitten im Reiche Gottes immer zweifelst, ob du drinnen seiest! Freudenmangel erfüllt dich mit Zweifeln! – Aber wer kann dafür, daß du Vorurtheile hegtest? Ist denn, was Christentum sei, je in eines Menschen Herz gekommen anders, als durch Offenbarung? Und ist dir denn verheißen worden, was du suchtest? Schlimm genug, daß du durch Vorurtheile deinen Blick, deine Faßungskraft beschränkst. Vorurtheile sind Beschränkung. Hätten die Jünger nicht Vorurtheile von dem Werke JEsu gehabt, so würden sie nicht von der Todesverkündigung so völlig betäubt worden sein, daß sie das Ende derselben, die Verkündigung der Auferstehung überhörten. In ihren Ohren klang es immer nur vom Tode – und da nun bald der Tod herannahte, so waren sie voll Jammers. Da sie vor dem Leichnam JEsu standen, war ihre Hoffnung erloschen, ihr Leben hatte seinen Werth verloren. Hätten sie hingegen keine Vorurtheile gehabt, so würden sie unbefangen den ganzen Inhalt der Verkündigung JEsu gefaßt haben. Der Tod würde ihnen nicht überraschend gekommen sein, die Hoffnung der Auferstehung würde das Weh gemildert und sie für den Ostermorgen und seine frohe Kunde bereitet haben, sie würden mit Anbetung Seine erhabenen Wege angestaunt und auf Seine Verherrlichung gehofft haben. Aber so ists, Vorurtheile bannen in den Kreis des nahen Elends – und vor lauter Ausschauen nach Erfüllung eigener Gedanken wird man kurzsichtig für Gottes Wege, die so herrlich enden! – Freund, höre, höre, was Gott redet, Keiner wird verständig, der nicht ein treuer Hörer ist. Höre auf das Wort, folg seinem Schalle, – laß dich nicht bald dünken, daß du genug vernommen habest und bald weise seiest: höre, folg dem Schalle, davon bekommst du Augen gleich dem Blinden. Der wird nie recht sehen lernen, der nicht gerne und beharrlich hört.


Am Sonntage Invocavit.
Matth. 4, 1–11.

 EIn trefflicher Spiegel ist dieß Evangelium: unser Leben – ist eine Wüste, in welcher uns wilde Thiere umgeben und der Satan versucht. Ein wunderbarer Spiegel ist dieß Evangelium: in der Wüste, der wir angehören, sehen wir uns wandeln, aber nicht wie wir sind, sondern wie wir sein sollen; denn wir sehen Christum wandeln, und Er ist, wie wir sein sollen. Es ist alles, wie bei uns: Er wird versucht, wie wir, – nur ohne Sünde. Brodmangel versucht Ihn in der dürren Wüste, Ehrgeiz will Ihn fällen in der öden, menschenleeren Wüste, Hunger nach Gewalt und Herrschaft möchte in der armen Wüste von Ihm aufgenommen sein. Alles, wie bei uns, – die hochmüthige Sehnsucht des armen, verachteten, unmächtigen Menschen, sein sehnsüchtiger, unzufriedener Hochmuth wagt sich an Ihn. Aber Er ist uns in allem ähnlich, nur nicht (und das ahnte etwa der Versucher nicht) in der Sünde. Das eben

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/345&oldid=- (Version vom 1.8.2018)