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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

bist Du’s nicht? Ein nackter, bloßer, blutrünstiger, unter furchtbaren Hieben sich krümmender und windender und seufzender und vielleicht weinender Mensch – das ist der Menschensohn, welchen Daniel, welchen später Johannes in so großer Majestät und Glorie sah, umgeben von Myriaden und Myriaden dienender Engel. Wo sind denn die Legionen Deiner Engel? Warum stehen sie so still, warum schauen sie ihrem blutigen, angebeteten König zu, so that-, so regungs- und trostlos? Hast Du ihnen Selbst die Hände gebunden mit Deinem Verbote, auf daß Du alleine littest und, o Schöpfer, erführest und in Deiner zarten Menschheit spürtest, was Leid und Weh sei? Ach Du trauriger, ach Du gepeinigter, ach Du blutiger, jammervoller Heiland, ich lese ja, daß Du Dich mit vielem Geschrei und Thränen Gott geopfert habest; ich habe mich über Dein Geschrei und Deine Thränen oft gewundert; aber ich habe mich drein gefunden, Deine Leiden waren so und dazu Dein Leib und Deine Seele, daß Du alles spürtest nicht wie andere, sondern mehr als andere in gleichem Falle, und Du bist doch allmächtig, auch wenn ich mir das Geschrei Deines Mundes und die Thränen Deiner Augen wie Ströme denken müßte! Aber wann hast Du geweint und geschrieen? Soll ich mir Dein Jammern und Weinen und Deine dennoch so willige und freudige Aufopferung mit der Geißelung zusammendenken? Soll mein Ohr meinem Auge helfen, Dein Leiden betrachten, auf daß mein Herz völlig getroffen, durchbohrt und Dir mitleidend zu Füßen gelegt werde? –

 Ja, es ist wahr, man geht über vieles hinweg. Man liest, was Matthäus, Marcus und Lucas von Deinen Geißelhieben, Johannes von den Peitschenhieben schreibt, welche Du littest, so hin, als wäre es nichts. Unter der Menge der Begebenheiten des Charfreitags scheint es, als wäre die Geißelung klein. Man denkt, man fühlt, man lebt sich nicht in Deine Leiden hinein und in deren Umstände. Ich weiß zwar wohl, daß Deine Leiden zu groß sind, um sich hineinzudenken und hineinzufühlen nach Würden; aber umsonst ist der Versuch doch nicht und es wäre gut, wenn wir’s oft thäten und wenn wir dabei aller der Umstände achteten, unter denen alles geschah. Es gilt auch hier was sonst, daß die Umstände ein helles Licht auf die Erzählungen der heiligen Schrift werfen, ein Licht der Wahrheit.

 So laß mich denn einmal an diesem Charfreitag Deine Geißelung, die blutige Todesvorbereitung nicht vergeßen; sondern gedenke mein und schenke mir Deinen Geist, daß ich Dein gedenke und lebendig Deine Geißelung vor meine Seele trete. Du opferst Dich in Weh und Schmerzen, in Thränen und Geschrei – gedenke mein und laß michs wißen, erinnere mich daran, wenn ich müde werden will, um Deinetwillen mit Worten und Werken Deiner Feinde ein wenig gegeißelt zu werden, oder wenn ich gar mich in Bande und Stricke der Welt will geben und versucht werde aufs Neue Dich in den Deinen zu geißeln. Gedenke mein auch in den Schmerzen und Leiden meines Leibes und Lebens, und wenn ich mich winde und krümme unter meinen Schlägen, die mir ohne Deine Vorsehung und mein Verdienst nicht kommen, dann laß mich nicht mein Leid mit Deiner Geißelung vergleichen (denn das ist kein Vergleich, ein solcher Vergleich ist ja schier Frevel), aber dran denken laß mich und meine Schmerzen Dir zu Ehren tragen und unter Geschrei und Thränen mich Dir zum Dankopfer bringen, wie Du Dich mir zum Versöhnopfer brachtest.

 Gegeißelter, Gegeißelter, gedenke mein, daß ich Dein nicht vergeße. Ehe ich Dein vergeße und Dich aus Herz und Sinn verlöre, wollte ich lieber Dir nach selbst gegeißelt werden. Gedenke mein, daß ich Deiner Geißelung nicht vergeße, sondern reuend, büßend, glaubend auch an diesem Umstand Deiner Leiden hange! Amen.


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/353&oldid=- (Version vom 1.8.2018)