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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Festes ist erreicht, denn es gilt hier bei weitem mehr anzubeten und vor Gott zu schweigen, als von dem unermeßlichen Meere Seines Wesens zu wißen; die Betrachtung schweigt, die Predigt hört auf, das Halleluja aber und das dreimal Heilig beginne, um nimmermehr aufzuhören. Amen.




Am ersten Sonntage nach Trinitatis.

1 Joh. 4, 16–21.
16. Und wir haben erkannt und geglaubet die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott, und Gott in ihm. 17. Daran ist die Liebe völlig bei uns, auf daß wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts; denn gleichwie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt, 18. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibet die Furcht aus; denn die Furcht hat Pein, Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe. 19. Laßet uns Ihn lieben, denn Er hat uns erst geliebet. 20. So Jemand spricht: Ich liebe Gott, und haßet seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet; wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet? 21. Und dies Gebot haben wir von Ihm, daß wer Gott liebet, daß der auch seinen Bruder liebet.

 IHr erinnert euch, meine lieben Brüder, daß ich euch am vorigen Sonntag in der Lehre von der allerheiligsten Dreieinigkeit eine Bedingung nachgewiesen habe, ohne welche Gott nicht vollkommen sein könnte. Ein Gott, sagte ich, in deßen Einem Wesen keine Dreiheit sei, ermangele der Vollkommenheit, dieweil er keine Liebe habe, und weil keine Liebe, auch keine Seligkeit. Bei der Lehre von der allerheiligsten Dreieinigkeit sei die Einheit des Wesens mit der höchsten Vollkommenheit, auch der der Liebe und Seligkeit verbunden, weil die Beziehung des Vaters, Sohnes und Geistes zu einander die des unaussprechlichsten Wohlgefallens und der vollkommensten Zuneigung sei. Da konnte man also schon am vorigen Sonntag behaupten, was wir im heutigen Texte finden: „Gott ist die Liebe“. Allein so wahr das ist, so ist die Anwendung des Wortes „Gott ist die Liebe“ in diesem Sinne dennoch eine ganz andere, als diejenige, welche wir in der heutigen Epistel finden. Im ersteren Sinne redet man von der wesentlichen, der allerheiligsten Dreieinigkeit einwohnenden Liebe, von jener Liebe, die Vater, Sohn und Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit verbindet; in der heutigen Epistel aber geht den Worten „Gott ist die Liebe“ der Satz voran: „Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, welche Gott zu uns hat.“ So wäre also hier von einer Liebe Gottes zur Creatur die Rede. Weil Gott dreieinig ist, so ist Er von Ewigkeit zu Ewigkeit die Liebe, die Seinem Wesen einwohnende dreieinige Liebe. Er hätte, um die Liebe zu sein, nicht nöthig gehabt, eine Welt zu schaffen; Er ist die Liebe vor der Welt und ohne die Welt gewesen. Nachdem Er aber die Welt erschaffen hat, so ist Er die Liebe auch in Bezug auf diese Welt zu nennen; Er liebt Seine Creatur und kann nicht anders. Seine ewige wesentliche Liebe spiegelt sich in der Liebe zu allem, was Er geschaffen hat, wie sich der Himmel und die schöne Welt im kleinen Auge eines Menschen spiegelt. Die Liebe Gottes zur Creatur ist jedoch auch eine doppelte, eine allgemeine und eine besondere. Die erstere bezieht sich auf alle Creaturen, die andere aber auf die heilige Kirche. Wenn nun in diesem Texte behauptet wird, Gott ist die Liebe, so kann die Liebe, von welcher die Rede ist, nicht die allgemeine sein, weil der ganze Text, welchem der Satz eingefügt ist, nicht von den Creaturen im allgemeinen, sondern von der Kirche Gottes handelt. Es ist daher die Meinung keine andere, als daß Gott die Liebe zu Seinen auserwählten,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 006. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/382&oldid=- (Version vom 1.8.2018)