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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Menschen – nicht wegwerfen, nicht hineinstoßen in Verzweiflung und Sündenschlamm, sondern „wieder zurecht bringen“ und zwar „mit sanftmüthigem Geiste.“ Ihr merkt wohl, daß ich im Tone des Vorwurfes und der Strafe rede. Ich habe aber Ursache, und zwar nicht eine kleine und vereinzelte. Die groben, harten, starren Sünder, die entschiedenen Kinder dieser Welt schätzen manche unter euch, gehen mit ihnen um, als wäre kein Makel an ihnen, ehren sie im Leben und im Tode. Wenn aber ein erklärter Christ von einem Fehl übereilt, oder von einer Sünde umgarnt wird, und Gott hilft ihm zur Buße, dann helft ihr ihm nicht wieder und nehmet die Sünder nicht an, wie JEsus, von dem die ganze Kirche singt: „JEsus nimmt die Sünder an“, sondern ihr seid schadenfroh und verlanget auch von eurem Hirten und Seelsorger, daß er es machen soll wie ihr. Wenn er wie JEsus, wie Paulus, wie alle Heiligen Gottes dem reumüthigen Sünder mit sanftmüthigem Geiste zurecht hilft, so sagt ihr, er behandle die Sünder ungleich, nicht einen wie den andern; ja, euer unverschämtes Urtheil ergeht sich über ihn, daß ihr sprechet, er behandle die Sünder sanftmüthig, weil er ihres Gleichen sei. Tritt die Zucht da, wo sie muß, mit Schärfe auf, so lästert ihr, und lästert nicht weniger, wenn sie durch die Buße des Sünders in der Gestalt der Mildigkeit und Sanftmuth aufzutreten berufen ist. So seid ihr wider alles Gottes Werk und bleibet euch gleich in Unverstand und Bosheit. Und warum? „Weil ihr nicht geistlich seid, und nicht auf euch selbst sehet, damit ihr nicht auch versucht werdet.“ Nicht geistlich seid ihr, weil euch der Geist Gottes nicht regiert in euerm Urtheil, in der Begier euers Herzens, in der Begegnung gegen andere, im ganzen Leben und Benehmen. Wer vom Geiste Gottes regiert wird, der ist gegen eigene Sünde scharf, gegen die Sünde bußfertiger Sünder milde. Ja, man kann es gradezu als ein Zeichen wahrhaft geistlicher Menschen benennen, mild gegen Fehlende zu sein und das achte Gebot in großer Weitschaft zu üben. Ein Heide meinte, er könne scharf im Urtheil gegen andere sein, weil er es gegen sich selbst sei. Aber sein Grundsatz schmeckt wohl nach der philosophischen Schule, der er angehörte, während er mit Christo JEsu nichts gemein hat. Wahre Christen geben keinen so leicht auf, der noch zu Christo kommt. Sie kennen sich, sie wißen, wie leicht ein Mensch fallen kann, wie leicht sie selbst fallen können. Die eigene geistliche Hinfälligkeit macht sie geneigt, andern das Benehmen und Verfahren, diejenige Behandlung angedeihen zu laßen, welche sie sich selbst wünschen.

 Dieselbe Lehre, welche der heilige Paulus in dem ersten Verse des sechsten Kapitels an die Galater vorlegte, liegt auch im zweiten Verse ausgesprochen. „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Vielleicht ist der Ausdruck Last etwas weiter als oben der Ausdruck „Fehl“; vielleicht deutet er auf alles, was dem einen am andern beschwerlich fallen kann, es sei Fehl und Sünde, oder irgend eine andere Eigenheit; vielleicht könnte man von diesem Ausdrucke aus auch alles das, was man Antipathieen nennt, als zu tragende Last, zu überwindendes Hindernis darstellen. Wenn es aber auch nicht sein sollte, wenn wirklich nur Sünde und Sündliches gemeint sein sollte, immerhin bliebe Empfehlung der sanftmüthigen Verträglichkeit genug vorhanden, und dazu eine Verheißung, welche Muth und Willen auch der Schwachen stählen könnte. Wer die Lasten friedlich trägt, der wird das Gesetz Christi erfüllen. Abermals eine Erwähnung des Gesetzes Christi, also eines Gesetzes im Neuen Testamente, nicht eines Gesetzes zum Tode, gegeben um Zorn anzurichten, sondern einer heiligen Lebensregel, wie sie in Christi Worten und heiligem Beispiele offenbart ist. Des Gesetzes Summa und Gipfel ist fröhliches Ertragen der Fehler und alles deßen, was die Brüder an einander schwer empfinden. Sich nicht wund und scheu zurückziehen in die Einsamkeit, nicht selbstgenügsam sich abschließen, sondern es wagen mit der Gemeinde gleichgesinnter, nach Heiligung jagender, aber dennoch schwacher Menschen, nicht irre werden an der Gemeinde der Heiligen, wenn sich’s noch alle Tage zeigt, wie viel man innerhalb ihrer zu tragen hat, sondern den heiligen Beruf erkennen, alle zu tragen, wie man von allen getragen wird, das ist ein Triumph des geistlichen Lebens über das Fleisch, von dem man viel reden und rühmen könnte, wenn man nur Zeit hätte.


 Uns mahnt jedoch die Zeit, zum letzten Theile des Textes überzugehen, welcher uns das Leben des

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/480&oldid=- (Version vom 1.8.2018)