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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Vorgang reden, für den und deßen Geschäfte ich kaum die Worte zu finden weiß; denn es liegt etwas Erstaunliches in der Sache. Der Mensch, von Natur des Guten unfähig, wird durch die Wiedergeburt des Guten fähig, so daß er nicht bloß seine alte Natur ausziehen kann und seine neue anziehen, wie ein Kleid, sondern sich auch erneuern im Geiste des Gemüthes. Könnte er es nicht, so riefe ihm der Apostel nicht zu: „Erneuert euch im Geiste eures Gemüthes.“ Erstaunliche Verantwortung, die also der Christ in Betreff seines inneren Lebens hat! Er hat eine Verantwortung, während ich armer Mensch, der ich andere lehren soll, mich kaum getraue, meine Meinung darüber zu sagen, wie sich jemand im Geiste seines Gemüthes erneuern solle und könne. Wenn ich auch sage, ich sei in der Taufe zum ersten Mal neu geworden, und müße in Kraft des mir dort geschenkten Lebens mich wieder erneuen können, so ist mir über das Wie der täglichen Erneuerung doch noch keine Unterweisung gegeben. Richtet sich auch der Befehl an die neue Creatur in mir, so bleibt mir ja doch am Ende nichts übrig, als die Annahme, die mich selbst in Erstaunen versetzt, ich soll mich kraft der mir beigegebenen göttlichen Macht erneuen: da muß also mein erneuter Wille immer wieder hervortreten, sich gläubig in die Fluth der mir beigelegten Kräfte der Taufe niedertauchen und wieder herauskommen ein täglich neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Heiligkeit vor Gott ewiglich lebe. Zu dieser wunderbaren Tätigkeit unseres Willens beruft uns der HErr durch das apostolische Wort, und wenn wir dem Rufe gehorsam wären, so müßten wir namentlich in den Stunden unserer stillen Andacht das Geschäft der Erneuerung vollziehen und unser immer erneuter Geist müßte dann beim Ausgang aus dem Kämmerlein, wo wir beten, und beim Eintritt in den Beruf des täglichen Lebens das weitere Geschäft vollbringen, den alten Menschen aus, den neuen anzuziehen. Die tägliche Uebung müßte uns Meister machen. Und je länger, je mehr müßte uns unsere Erneuerung und eben dadurch auch die tägliche Ergreifung und Anziehung des neuen Menschen gelingen. Wahrlich, meine lieben Brüder, solche Stellen der heiligen Schrift, wie die, an der wir uns beschäftigen, können uns zeigen, was für ein Unterschied zwischen der elenden Moral ist, die viele predigen, und zwischen dem inneren Leben, zu welchem wir durch den Mund der alten Apostel aufgeboten werden. Die zu so Großem berufen sind, mögen sich in Demuth beugen, ihre Aufgabe schätzen lernen, ihr inneres Leben beachten und den HErrn anrufen, daß es ihnen niemals am kräftigen Zuruf des Wortes und niemals am reichen Zufluß des heiligen Geistes mangele, im großen Geschäfte der Erneuerung vorwärts zu gehen.

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 Wir stehen bei dem zweiten Theile unseres Textes, in welchem die allgemeine Ermahnung zur Erneuerung ihre besondere Wendung nimmt. Diese besondere Wendung hält übrigens doch auch die Art und Weise der allgemeinen Ermahnung ein. Diese redet nemlich von einem Ablegen des alten Menschen, und einem Anziehen des neuen. Ebenso finden wir es nun auch bei den besonderen Handlungen und Erweisungen des neuen Menschen, welche der Apostel vorbringt. Auch hier steht sich ein Ablegen und Anziehen, wenn nicht in den drei besonderen Erweisungen des neuen Menschen, so doch in zweien gegenüber, obschon, wer da wollte, den Gegensatz zwischen Ablegen und Anziehen bei allen durchführen könnte. Laster werden abgelegt, Tugenden werden angenommen; neben dem, was abzulegen ist, wird auch gleich gezeigt, welche Tugend entsprechend anzulegen sei, da ja ohne Zweifel jedem Laster seine Tugend, jedem bösen Werke seine gute Frucht des heiligen Geistes zur Seite und gegenüber gestellt werden kann. So ermahnt denn der Apostel: „Leget die Lügen ab“ und dem gegenüber: „redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter einander Glieder sind.“ Er ermahnt ferner: „Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr,“ und dem entsprechend: „er arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes auf daß er habe zu geben dem Dürftigen.“ Da stehen sich also Lüge und Wahrhaftigkeit, Stehlen und mildthätiger Fleiß wie Nacht und Tag, wie Schatten und Licht einander gegenüber. Ebenso kann man auch aus dem mittleren Gliede den Gegensatz leicht herausfinden, wenn auch der Apostel nicht im gleichen Maße, wie bei dem ersten und dritten Gliede, in der Form des Gegensatzes spricht. Neben dem zornmüthigen Wesen, welches erwähnt wird, erscheint in ihrem milden Glanze die friedfertige verzeihende Liebe. „Zürnet und sündiget nicht,“ vermahnt der Apostel und

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/507&oldid=- (Version vom 1.8.2018)