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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der Wurzel bis zur Frucht alles Gewächs des Menschen visitirt, – da wird Vollkommenheit gefordert von der Wurzel bis zur Frucht! Wo ist der eitle Thor, dem bei solchen Forderungen das Rühmen nicht vergeht? Wie verblendet muß der sein, wie unnatürlich, vom Fürsten der Finsternis verblendet, der sich solchem Maßstab gerecht fände! O HErr, mein Gott! Wie unbillig, wie ungerecht, wie leicht und leichtsinnig, und doch wie hart, wie oft, wie lange zürnen und grollen wir, haben Kummer und Unruhe zum Lohne hier, – denken an Deine heiligen Drohungen, an die Strafen jener Welt, an Gehenna, – an die Flucht des Lebens, das uns der Ewigkeit entgegenträgt, – denken dran und glaubens nicht und beugen uns nicht, trotzen auf den kleinen, kurzen Maßstab, wenn sich gleich vor unsern Augen Dein Maßstab aus dem Himmel streckt! HErr und Heiland meines Lebens, erbarm Dich meiner, züchtige mich durch den Geist des Gesetzes, nicht, daß ich klein sei, denn das bin ich, aber daß ich mich in meiner Kleinheit erkenne und durch Demuth die Gerechtigkeit beginne, welche beßer ist, als der Pharisäer Gerechtigkeit! Kyrie, eleison!


Am siebenten Sonntage nach Trinitatis.
Marc. 8, 1–9.

 SEhr ähnlich ist dies Evangelium dem des Sonntags Lätare, und doch so verschieden, daß man nicht sagen kann, es komme einerlei Geschichte im Kirchenjahre zwei Mal vor. Außer der verschiedenen Zeit und der augenfälligen Unterschiede, z. B. in der Anzahl der Gespeiseten, erinnere ich dich, mein Leser, daß hier eine reine Wundererzählung, dort ein Wunder im Zusammenhang himmlischer Lehren zu finden ist, – daß hier das Volk, dort mehr die Jünger vom HErrn im Auge behalten werden. Doch auch abgesehen von Verschiedenheiten, laßen sich aus dem reichen Schatze des Evangeliums gar manche Gedanken hervorholen, die für mehr als eine Predigt Seelenspeise reichen. Erlaube mir, in Kürze dir einige zu sagen:

 1. Verlegenheiten des zeitlichen, wie des geistlichen Lebens sind auch in JEsu Nähe und Gegenwart möglich. Es ist kein Beweis, daß Er nicht bei dir ist, oder dein nicht achtet, wenn du in Wirren und Verlegenheiten kommst. Er hat ja den Seinen auf Erden nirgends ein ungetrübtes, angstloses Leben verheißen.

 2. Aber Er bemerkt jegliche Verwirrung und Verlegenheit in ordnender Liebe. Der Lilien und Sperlinge denket Er, – und nichts ist Ihm klein. Wie sollte Ihm denn der Mensch klein sein und Seinem Gedächtnis der entgehen, für den Er starb, Er – starb!

 3. „Ihn jammert des Volks!“ Nöthen, die Er sieht, fühlt Er auch. Er kann Sich, weil Er Mensch geworden, in jegliche menschliche Lage versetzen und fühlt für alle. In Seiner Brust lebt eines jeden Menschen Leiden. Alle sind Ihm vor Augen, Ihm im Herzen, Ihm zu Schmerzen. All’ unsre Krankheit, all unser Mangel ficht Ihn an, wie uns, – denn Er lebt für uns, fast möcht ich sagen, Er lebt ganz in uns, und Er leidet all unser Leiden mit!

 4. Er bemerkt alles, Er fühlt alles, was Er bemerkt – Er, der selige HErr, vertreibt mit freudenreicher Hilfe alles, was Ihn und uns schmerzt. Er verwandelt Leid in Freude. Er kann nicht anders. Denn Er ist Einer, und alles in Ihm ist Harmonie: Licht, Wärme und Leben, – Noth erkennen, Noth fühlen, Noth heben und dann freudig ruhen ist Seine Art.

 5. Allewege ist Er so. Wo man aber um Seinet- und Seines Evangeliums willen in Nöthen und Verlegenheiten kommt, da ist Er mit doppelter Inbrunst da. Er beweist ohn Unterlaß den Seinigen, daß Seelensorge den Leib nicht versäumet, selbst dann nicht, wenn sie Zeitversäumnis mit sich bringt. Er säumt nicht, deinen Leib zu versorgen, wenn auch du bei Ihm säumest und verweilst. Ehe du bittest und rufest, steht dein Bedürfnis zu Handen. Die stumme Noth der Seinen ist ein lautes Gebet zu Ihm – die noch unerkannte, kommende Noth ist schon erhört bei deinem reichen Gott. – Säume nur bei Ihm und erfahre es, auf daß du stark werdest im Glauben und Ausharren bei Ihm!


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/568&oldid=- (Version vom 1.8.2018)