Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/578

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

auch nicht zum Seelsorger. – Du würdest in ein Labyrinth treten und nicht mehr herauskommen. Denn ein jeder – oder doch die meisten – haben nach ihren Worten vor Menschenohren Recht, und wenn du nicht etwas von der Gabe, die Geister zu unterscheiden, bekommst, wirst du vielleicht in den Wahn verfallen, als beruhten alle Zwistigkeiten der Menschen nicht auf Recht und Unrecht, sondern auf Misverständnissen.

 Die Pharisäer haben Unrecht am Sabbath und bei Tisch. Sie seigen am Sabbath Mücken, denn es ist ihnen am Sabbath um Ochs und Esel zu thun. Sie verschlucken am Sabbath Kameele, denn sie können Menschen leiden und sterben sehen in voller Feiertagsruhe, ohne Hülfe zu bieten, – es müßte denn sein, daß ihnen die Menschen eigen wären, wie Verwandte, wie Sclaven. Fast hätte ich herausgeredet, was zu viel ist, wie jene Thiere. Sie seigen bei Tisch Mücken, denn sie setzen ein Oben und Unten, das jeder ändern könnte, und kommen bei dem Wählen darüber in Krieg und Streit. Sie verschlucken Kameele, denn sie vergeßen, daß ihr Wählen aus Hochmuth kommt.

 Dagegen hat Christus Recht am Sabbath und bei Tisch; ER ist vom Mückenseigen und Kameelverschlucken gleich fern. Oder beßer – von Ihm ist große und kleine Sünde gleich fern. Er würde, wenns vorgekommen wäre, dem Ochsen und Esel am Sabbath geholfen haben, ja dem Wurme; vielmehr hilft Er dem leidenden Menschen. – ER kennt keinen Hochmuth im Großen, so kennt Er auch keinen im Kleinen. ER ist demüthig, wenn sie Plätze wählen und wenn es Kronen gilt. ER ist demüthig und mitleidig, mitleidig und demüthig, und empfiehlt mir und dir ein Gleiches. Er hat Sich gern geniedriget, wenn gleich die beständige Wahrheit auf Seinen Lippen Ihn über alle Menschen erhub. Ja ob ER schon aller Ehren würdig war und kein Mensch Ihm den Platz streitig machen konnte; so verlangte ER doch weder Fußwaßer noch Kuß, wenn ER zu einem eingebildeten Pharisäer kam. ER war der Letzte, der doch vor Gott der Erste war. ER – weißt dus nicht? – ER that, was Philipper 5, 11, steht, „ER erniedrigte Sich Selbst und war gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuze. Darum hat Ihn auch Gott erhöhet und einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen JEsu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erden sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß JEsus Christus der HERR sei, zur Ehre Gottes des Vaters.“ Phil. 2, 8–11.


Am achtzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 22, 34–46.

 FRagen und Fragen, das ist ein großer Unterschied. Die Pharisäer kommen, sprechen: „Meister, lieber Meister“ und fragen. Die Sadducäer machens eben so. Sie nennen Ihn Meister, als wollten sie wirklich von Ihm etwas lernen; aber sie denken nicht dran, zu lernen; sie wißen sich längst genug und fragen andere nur, um zu examiniren und zu fahen. Wenns nicht so wäre, hätten sie etwa eine solche Frage gethan? Ist das eine Frage für den Lehrer aller Welt: „Welches ist das fürnehmste Gebot?“ Ein Kind soll das wißen; ein alttestamentlich Kind konnte es wißen; – und sie wollen Ihn damit versuchen?! Waren sie etwa der Meinung, daß Er in ihre armseligen Kriteleien, durch welche sie sich oft mit allem Fleiß die leicht erkennbare Wahrheit aus den Augen zwangen, eingehen sollte und eine zweifelhafte, Ketzerrichtern willkommene Antwort geben? Da hätten sie sich betrogen! Er antwortet mit einfältiger, unläugbarer Wahrheit, welche den ganzen Quark ihrer Hoffnungen wie Spreu verweht. – So muß es denen gehen, welche den Schein der Schüler annehmen, wenn sie auf dem Wege sind, ihrer armen Weisheit eine Krone zu finden! Wenn die Wahrheit in Versuchung geführt wird, so gehe ihr Wort aus und treffe mit Mildigkeit und doch mit Kraft und werfe dahin den Versucher! – Frag’ du, mein verkehrtes Kind, deinen Meister nicht ferner in fürwitzigem Hochmuth, sondern lerne von JEsu im Evangelio, welche Fragen dir geziemen, welche ER dir gerne beantwortet, solche nämlich, die du nicht weißt.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/578&oldid=- (Version vom 1.8.2018)