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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und meinen An- und Ueberblick gebe ich euch wieder.

 Der Apostel sagt von der Liebe 1. Was wir vorübergehend schon erwähnten, daß ohne sie alle Gaben und deren Uebung dem Menschen, der sie hat, nicht nützen, weil er ohne Liebe nichts ist als ein herzlos tönendes Erz; daß 2. erst die Liebe allen Gaben Werth und Seele eingießt, daß sie allein es ist, welche den Menschen und sein Thun von innen nach außen schön und vor seinen Brüdern ehrwürdig macht. − Er sagt ferner 3. daß die Liebe ist eine Mutter, ja ein Inbegriff aller Tugenden, die sich unter dem Namen Demuth und Aufopferung für die Brüder zusammenfaßen laßen. Denn alles, was von v. 4–7 gesagt ist, ist nichts als eine Darlegung aller Tugenden der Liebe, die in sich demüthig ruht und sich opfernd für andere dargibt. Endlich sagt er 4., daß die Liebe vor allen Gottesgaben, selbst vor Glaub und Hoffnung das voraus hat, daß sie in sich selbst unveränderlich eine ist in Zeit und Ewigkeit. Alles hört an den Pforten der Ewigkeit auf oder wird anders, aber sie bleibt. Es ist drum auch das Geschäft und die Uebung der Liebe himmlischer Art und man tritt dadurch in die Gemeinschaft Gottes, Seiner Engel und Auserwählten und aller Seiner Heiligen, die ja alle nichts thun als lieben. Denn Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, − und weil alle Seine Engel, Auserwählten und Heiligen in Gott sind und bleiben, so sind und bleiben sie auch in der Liebe.


 Laßet uns Gott um Liebe bitten! Unsre Vorstellungen von der Liebe laßt uns an unserm Texte prüfen, daß sie geläutert werden. Wenn wir wißen, was rechte Liebe ist, dann wollen wir bitten, daß wir sie empfangen! Der HErr schenke uns Liebe, wie sie Ihm wohlgefällt, nach der Art, wenn auch nicht nach dem Maße der Liebe Christi! Die höchste aller Gaben, heilige Liebe, werde uns nicht versagt hier und in Ewigkeit! Amen.


Am Sonntage Invocavit.
2. Corinther 6, 1–10.

 IN die Zeit der Leiden des hochgelobten Heilands scheinen diese Evangelien und Episteln nicht zu passen. So scheints dem oberflächlichen Betrachter. Aber wie wenn auch diese Texte deutlich von Seinen Leiden predigten! Wenigstens beim heutigen Episteltexte sehe ich meines Heilands Leiden deutlich − im Bilde Seiner Jünger und Diener. Wie Er in dieser Welt war, so waren auch Seine Jünger in dieser Welt. Sie trugen die Leiden ihres Heilands an ihrem Leibe herum, jeder konnte den HErrn an den Dienern erkennen. Ueberlege nur einmal die Worte „Trübsal, Nöthen, Aengsten“ (v. 4.), „Schläge, Gefängnis, Aufruhr, Arbeit, Wachen, Fasten“ (v. 5.), „Ehre und Schande, böse Gerüchte und gute Gerüchte, Verführer und doch wahrhaftig“ (v. 8.), „unbekannt und doch bekannt, sterbend und siehe, lebendig, − gezüchtigt und doch nicht ertödtet“ (v. 9.), „traurig und doch allzeit fröhlich, arm und doch viele reich machend, nichts inne habend und doch alles habend“ (v. 10.)! Erzählen sie etwa nur den Lebens- und Leidensgang der Apostel und nicht vielmehr den des HErrn Selber? Könnte man nicht ein jedes von diesen Worten zu einem Passionstexte wählen? Wahrlich die Leiden der Knechte Christi predigen laut von denen des HErrn! − Auch sind es ja nicht die Leiden allein, die man in Christo sieht. Leiden sieht man auch an andern, auf Erden und in der Hölle. Aber wie Er gelitten hat, das sieht man sonst nicht. Oder ja! Man sieht Copien Seiner „Geduld, Seiner Keuschheit, Seiner Erkenntnis, Seiner Langmuth, Seiner Freundlichkeit, Seines Wesens voll heiligen Geistes, Seiner ungefärbten Liebe“ (v. 4. 6.), Seines ganzen großen, heiligen Kampfes (v. 7.) in den Aposteln. Ja, wie Er in dieser Welt war, so sind auch sie gewesen. In ihnen wiederholten sich Seine Tugenden, wie Seine Leiden. Er litt in ihnen − und sie hatten Seine Gnade nicht vergeblich empfangen (v. 1.) − Doch muß ich dir, geliebter Leser, gestehen, daß ich die Apostel für keine treuen Bilder ihres HErrn erkennen würde, wenn ihnen eins fehlete. Die Mannigfaltigkeit Seiner Leiden und Seiner Tugenden sehen wir an den Aposteln. Mich hungert aber darnach, vor allem andern Seine heilige, durch alle Leiden hindurchgehende,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/281&oldid=- (Version vom 14.8.2016)