Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/423

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

eigene falsche Antwort auf die Frage: „wer ist mein Nächster?“ begründet. Die Juden pflegten nemlich blos ihre Mitjuden, also ihre Stammesgenoßen für ihre Nächsten zu halten, und denen thaten sie deshalb ungleich mehr zu Lieb und Nutz, als andern. Wer nicht ihr Stammesgenoße war, an dem giengen sie, und wenn sie ihn mit blutenden Wunden fanden, oftmals kalt vorüber. Kann sein, geliebte Brüder, daß unter uns mancher die beschränkte Ansicht vom Nächsten nicht hat, wie die Juden; aber prüft euch, ob eure Ansicht nicht noch enger und beschränkter ist. Die Juden hielten doch alle Juden für Nächste, die man wie sich selbst zu lieben schuldig sei; demnach hättet ihr alle Leute unsers Stammes und Volkes für eure Nächsten zu halten und wie euch selbst zu lieben. Thut ihr das? Zu wie vielen Stammes- und Volksgenoßen habt ihr vielleicht schon gesprochen: „Was gehst du mich an?“ d. i. „Bist du etwa mein Nächster?“ Wie vielen mögt ihr damit die Liebe aufgekündigt haben, die ihr ihnen nach jüdischen, geschweige nach christlichen Begriffen schuldig waret! Denn das werden wir gleich aus unserm Text ersehen, was der christliche Begriff des Nächsten ist.

 Der HErr gibt seine Belehrung im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Kurz zusammengefaßt ist der Inhalt dieser: Ein Jude gieng von Jerusalem den gefährlichen Weg hinab nach Jericho. Räuber ziehen ihn aus, schlagen ihn, laßen ihn halbtodt liegen. Ein Priester und ein Levite ziehen dieselbe Straße, sehen ihn liegen, eilen erschreckt vorüber. Ein Samariter kommt hernach, leistet ihm die augenblickliche nöthige Hilfe, setzt ihn auf sein Thier und führt ihn behutsam zur Herberge, wo er bis zur völligen Genesung auf Samariters Unkosten gepflegt wird. − Der HErr erzählt die Geschichte und beschließt sie mit der an den Schriftgelehrten gethanen Frage: „Welcher dünket dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen ist?“ Der Schriftgelehrte hätte ganz einfach und kurz antworten können: „Der Samariter“. Aber dazu war er zu stolz. Er mag wohl die Gesinnung JEsus Sirachs gehabt haben, welcher 50, 27. 28. sagt: „Zweierlei Volk bin ich von Herzen feind; dem dritten aber bin ich so gram, als sonst keinem: den Samaritern, den Philistern und dem tollen Pöbel zu Sichem.“ Denn er nimmt nicht einmal den Namen des verhaßten Samariters in den Mund, sondern spricht nur: „Der die Barmherzigkeit (an dem unter die Mörder Gefallenen) that.“ Der HErr aber schonte die Scheu des Pharisäers und Schriftgelehrten, welche bei ihm nicht am rechten Orte war, so wenig, daß Er im Gegentheil den Samariter ihm zum Beispiele aufstellte, und sprach: „So geh hin und thu desgleichen.“

 Wenn wir nun aus dieser Geschichte die Lehre ziehen und die Frage des Schriftgelehrten: „Wer ist mein Nächster?“ ganz einfach, wenn auch mit Anwendung auf den Schriftgelehrten beantworten wollen, wie lautet die Antwort? Sie lautet also. Dein Nächster ist der, dem du der Nächste bist. Dein Nächster ist der, welcher dein bedarf, welcher ohne dich nicht aus seiner Noth gerißen wird. Ja mehr noch, dein Nächster ist, deß Noth dir kund wird; jeder Leidende, welcher dir offenbar wird, ist dein Nächster. Wenn der Samariter hätte denken wollen, wie die Juden, daß nur die Stammesgenoßen die nächsten seien, so wäre er vorübergegangen und hätte damit nach pharisäischer Sittenlehre ganz recht gethan, denn Pharisäer handelten ja eben so. Der Samariter aber hatte Liebe im Herzen statt pharisäischer Grundsätze, darum übte er ganz einfach Nächstenliebe und zeigte durch sein Beispiel, daß die Nächstenliebe nicht nach der Abstammung fragt, sondern nach der Noth. Unter allerlei Volk, wer dich brauchen kann, wem du nützen kannst, der ist dein Nächster, − und je mehr er dich braucht, je mehr du ihm nützen kannst, desto mehr ist er dein Nächster und du seiner. Der Samariter wußte, daß der unter die Mörder Gefallene ein Jude, also sein Feind war; aber er half dennoch, er bewies also, daß Haß, seis auch Religionshaß, auf die Bestimmung der Frage: „Wer ist mein Nächster?“ keinen Einfluß habe. Freund oder Feind, Jude oder Samariter − unter allerlei Religion, ohne Unterschied, ob du Gleiches zu hoffen habest oder nicht: der ist dein Nächster, der dich braucht, dem du nützen kannst. Das zeigt des Samariters Beispiel. Dagegen das Beispiel des Priesters und Leviten zeigt, daß der Grundsatz, nur Stammes- und Religionsgenoßen seien Nächste, nicht wahr und überdies ein solches Gewächs ist, welches am Ende auch den Stammes- und Volks- und Religionsgenoßen keine Frucht bringt. Wer die Nächstenliebe so eng begränzt, der hat am Ende gar keine wahre Nächstenliebe,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 084. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/423&oldid=- (Version vom 24.7.2016)