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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sinn und Willen Christi höher faßen und weiter ausdeuten, nemlich auf Reinigung, Wiederherstellung, Reformation des alttestamentlichen Gottesdienstes; das, was ein jeder unter der Tempelreinigung verstand, konnte er gewis recht mächtig und kräftig in der Handlung Christi ausgesprochen finden.

 Der Tempel hatte mehrere Vorhöfe, und der äußerste hieß und war ein Vorhof der Heiden, erbaut um anzudeuten, daß nicht bloß Israel, sondern alle Völker dem HErrn Jehova in diesem Hause ihre Anbetung darbringen sollten. In diesem Vorhofe der Heiden, einem weiten gepflasterten Raume, geschah nun die Geschichte der Austreibung. Diese Juden, welche ihren Gott alleine für sich am liebsten behalten und den Heiden auch nicht aus der Ferne anzubeten erlauben wollten, misbrauchten den Raum, um da Buden aufzuschlagen und einen förmlichen Markt zu halten. Im Lande waren des Kaisers Münzen gäng und gäbe; wer etwas in den Tempel zu zahlen hatte oder schenken wollte, der fand hier Wechsler, die ihm für das gewöhnliche römische Geld gegen Aufgeld Tempelmünze auswechselten. Wer von ferne her kam, um dem HErrn ein Opfer darzubringen, der konnte die Opferthiere hier im Tempel kaufen. Hier konnte die arme Mutter, die nach ihrem Wochenbette ein paar Turteltauben oder junge Tauben darzubringen hatte, Taubenkrämer genug finden, bei welchen sie Auswahl hatte. Da konnte man auch Salz haben, das zu allem Opfer nöthig war, auch Oel und Mehl zu Speisopfern. Kurz, alles, was nur zu Opfer und Anbetung nöthig war, das wurde hier feil geboten. Da nun der Tempel nicht bloß eine Art von Stadtkirche Jerusalems, sondern der Mittelpunkt des ganzen über die Erde schon damals zerstreuten Volkes Israel war; so gab es der Besucher aus der Nähe und Ferne viele und jedermann hielt es für bequem, daß er voraus für nichts zu sorgen brauchte, sondern in Jerusalem und im Tempel selbst alles zum Opfer Nöthige haben konnte. Was nun da, ganz in der Nähe der Anbetenden, die der höchsten Stille bedurften, oftmals für ein unheiliger Lärm verführt worden sein mag, dies Bieten und Feilschen, diese Aufregung der Leidenschaften, welche man bei jedem Jahrmarkte sehen kann, wohl auch dies Betrügen und was alles − man kann es sich vorstellen, und der HErr bezeichnet es genug, wenn Er das Wort des Propheten darauf anwendet und sagt, sie hätten Sein Haus und den Ort insonderheit, der ein Bethaus aller Heiden und Völker sein sollte, zu einer Mördergrube und Räuberhöhle gemacht. Denn gleich wie in einer Räuberhöhle die Räuber zwar nicht rauben und morden, sondern ihren Raub austheilen, austauschen, einander verkaufen und so mit einander handeln, wie es ihres Namens würdig ist, so that Israel im Vorhof der Heiden.

 In dies Gewühl hinein trat der HErr. Denkt euch, meine Freunde, es wäre ein anderer hineingetreten; würde die wimmelnde Menge sein geachtet haben? Und wenn es ein anderer gewagt hätte, Ruhe zu gebieten, oder gar den Versuch gemacht hätte, auszuräumen, was würde er ausgerichtet haben? Man würde einen Augenblick noch mehr gelärmt haben, bis man den lästigen Menschen ergriffen und ihn aus dem Mittel geschafft gehabt hätte. Bei Christo ists anders, Sein achtet man, und wenn Er Seine aus Stricken geflochtene Geißel aufhebt, so flieht diese Menge. Sein Thun ist das eines großen Propheten, mächtig, unwiderstehlich. Was kümmert Er Sich darum, wem da diese Wechselbuden und Geldsäcke gehören, Er fährt hindurch, stößt alles über den Haufen, die Eigentümer jagt Er hinaus, dazu die Thiere. Vor Ihm weicht und flieht alles, und der erschrockenen, von des HErrn Furcht ergriffenen Menge des unheiligen Volkes ruft Er mit schallender Stimme nach: „Es steht geschrieben, Mein Haus soll ein Bethaus heißen allen Völkern (Marc. 11), ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht.“ Wenn man sich lebendig hinein versetzt und im Geiste der gewaltigen That des HErrn zuschaut, wie es Ihm gelingt, wie Er HErr ist in Seinem Hause; so begreift man wohl, warum jetzt noch kein Hoherpriester, noch Priester noch Aeltester aus dem Priesterhofe herunter kommt und Ihn fragt: „Aus waser Macht thust Du das?“ Gewis merkte ein jeder, von wannen die Macht kam. Es gehörte Zeit dazu, da mußten die Hohenpriester und Aeltesten erst dazwischen schlafen und sich sammeln, um am andern Tage den Muth zu finden, vermöge deßen sie zu dem Schrecklichen traten und wirklich fragten: „Aus waser Macht thust Du das?“

 Indes gewinnt der HErr Zeit, im Tempel Selbst zu beweisen, daß Sein Zorn Seine Gnade nicht aufhebt. Es ist still im Heidenvorhof, kein Markt wird mehr gehalten; aber von der Stadt herauf lockt der Hosiannagesang,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/520&oldid=- (Version vom 31.7.2016)