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blos ein Leben in Visionen und Entzückungen geführt habe. Wer 270 solche Briefe hinterlaßen kann, wie wir sie von Hildegard haben, der hat der Nachwelt den überzeugendsten Beweis einer thatkräftigen und wahrhaft praktischen Seele zurückgelaßen. Die körperlich schwache Hildegard wurde nicht blos nach dem Tode ihrer Erzieherin, der Aebtissin Jutta, im Jahre 1136 selbst zur Aebtissin gewählt; nicht blos vertrauten ihr die ausgezeichnetsten Familien ihre Töchter an; nicht blos regierte sie ihr Kloster mit fester Hand nach Einem Ziele hin; sondern sie trat auch in weitere Kreise hervor. Bei der Oeffnung des inneren Auges, die ihr sehr frühzeitig zu Theil geworden war, hatte sie anfangs geglaubt, auch andere müßten sehen und hören, was sie sah und hörte. Mit Schrecken bemerkte sie, daß es nicht der Fall war, und verschloß nun die ganze Welt von Licht und Wahrheit, die sich ihr erschloß, bis in ihr fünfzigstes Jahr tief in ihr Inneres. Da aber war es ihr nicht mehr möglich. Schwer erkrankt durch die Last ihres Geheimnisses, kam sie zu dem Entschluße, von nun an ihren Mund aufzuthun und genaß sofort. Von da an richtete sie ihre Reden, Bestrafungen, Mahnungen und Warnungen kühn an alle, für welche sie ihr gegeben

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Wilhelm Löhe: Rosen-Monate heiliger Frauen. S. G. Liesching, Stuttgart 1860, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Rosen-Monate_heiliger_Frauen.pdf/290&oldid=- (Version vom 9.10.2016)