Seite:Wilhelm Löhe - Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze.pdf/101

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hundertmal in Büchern lesen und von Kanzeln hören, entweder geradezu, Er rede von Seinem geistlichen Durste nach der Seligkeit unserer Seelen, oder Er rede, wenn auch von einem leiblichen Durste, doch nicht allein von diesem, sondern von ihm, als einem Bilde Seines vorhandenen größeren Durstes nach unserer Seelen Seligkeit. Selten einmal wird sich ein Prediger begnügen, die Textesworte einfach zu nehmen, zu glauben und zu predigen, daß der HErr in Seinem fünften Wort am Kreuz nichts anders gemeint als gesagt und nur die Empfindung Seines leiblichen Durstes in Worten ausgesprochen habe. Es ist, wie wenn der leibliche Durst des Gekreuzigten für eine Betrachtung oder Predigt nicht Stoff genug gäbe, wie wenn die Seelen der Hörer durch eine bloße Erwägung des leiblichen Durstgefühles JEsu nicht passionsmäßig genug gestimmt und nicht genug zum Dank gegen den HErrn erweckt werden könnten. Wie wenn des HErrn wörtlich Wort für eine Passionspredigt zu arm wäre, oder wie wenn viel daran läge, eine Predigt so lang wie die andere machen zu können, ergreift man die sogenannte geistliche Deutung, um doch auf keinen Fall in Verlegenheit zu kommen. – Nun kann ja wol kein Mensch in Abrede stellen, daß der HErr allezeit, auch am Kreuze, ja namentlich am Kreuze ein großes Verlangen nach der Seligkeit unserer Seelen gehabt hat; man kann sagen, daß Ihn dies Verlangen ans Kreuz brachte, daß Sein Leben auf Erden vom ersten bis zum letzten Hauche eine große reiche Kette von Beispielen und Beweisen dieses Seines Verlangens sei; daß dies Verlangen der Schlüßel zu allen Geheimnissen Seines Lebens und Wirkens, Seines Leidens und Sterbens genannt werden müße. Auch wird niemand in Abrede stellen, daß man