Seite:Wilhelm Löhe - Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze.pdf/23

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erscheinen kann, wenn er oft davon hört. Daran erkennt man aber auch die Nothwendigkeit der Meditation und Betrachtung, weil nur auf diesem Wege der verderbliche Bann gehoben und das trübe Auge geheilt werden kann, daß es im Lichte Gottes wieder das Licht erkenne. Manche haben sich zwar gegen eine solche Vergegenwärtigung der Leiden Christi, durch welche das Wort Kreuz oder Kreuzigung zu eurer anschaulichen Darstellung aller Einzelheiten wurde, gewehrt, als wäre es ein verkehrter, schon wegen leicht einschleichender Sentimentalität verwerflicher Weg. Man wird ja auch allerdings zugeben müßen, daß es eine sentimentale Betrachtung dieser Art gegeben habe und gebe. Aber es gibt auch eine richtige Art, eine vollkommen berechtigte Weise, sich in die Leiden Christi, auch in die äußerlichen, zu versenken, und sich eine lebendige Vorstellung von dem zu machen, was Ihm geschehen ist. Wie groß hat der HErr selbst Sein Leid und Weh angesehen, wie schwer an ihm getragen, dazu alles im Einzelnen gefühlt, daß schon der Geist der Weißagung in den Psalmen Ihn sprechen läßt, Er habe in Seinen Schmerzen alle Seine Gebeine zählen können, Ps. 22, 18. Seinem Fühlen angemeßen und ähnlich sollte unsere Betrachtung sein. Wir erreichen auf diesem Wege die Wahrheit wol nie. Vermögen wir doch nicht einmal eigene Leiden, wenn sie vorüber sind, durch die Erinnerung uns wieder so vorzustellen, daß sich der Eindruck wiederholte. Wie viel weniger wird es die Einbildungskraft vermögen, sich in das Schmerzgefühl des Sohnes Gottes zu versenken? So viel aber können wir doch erreichen, daß uns die leichtsinnige, laue, kalte Ansicht von der Kreuzigung vergeht. Daher mache man sich nur bekannt mit den einzelnen Umständen einer Kreuzigung, wie sie