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2.

 Wenn ich auch bei der Betrachtung der Person, die verlaßen ist, die Verlaßenheit selbst nicht aus dem Gedächtnis verlieren kann, so ist mir doch die Erinnerung an diese Person ein Heilmittel wider den erschreckenden Gedanken des ewigen Todes und der Verlaßenheit; ja ich kann den Gedanken der Verlaßenheit selber eher ertragen, wenn ich die Person erwäge, welche die Verlaßenheit ertrug, und ich bin um etwas heiterer und fröhlicher selbst in den dunkelen Stunden meines HErrn, wenn ich Seine Füße umfaße und mich geistig an Ihn halte. Also wolan, laßt uns die Frage erwägen: wer ist denn verlaßen? Erwägen, sage ich, denn gelegentlich mußte sie schon bisher immer und immer wieder besprochen werden.

 Wer ist es, der hier im tiefsten Sinne des Wortes von Gott verlaßen hängt? Es ist Der, der einzig, wie kein anderer, für Seine Zeitgenoßen, für die Vorwelt und Nachwelt gelebt hat, der da sagen konnte, ich bin nicht gekommen, daß ich mir laße dienen, sondern daß ich diene und gebe mein Leben zu einer Erlösung für viele. Er ist drei Jahre und drüber eine Freude gewesen aller frommen Herzen, die Genesung der Kranken, die Gesundheit der Siechen, der Brodschaffer der Hungrigen, das Leben der Todten, das Licht der Irrenden, ein Wolthäter für Sein Volk und deßen Gäste, ein Geruch des Lebens und der Genesung auch in die weite Ferne. Sein Jünger Petrus hat Ihm später den kurzen aber treffenden Lebenslauf geschrieben: „Er ist umher gegangen und hat wolgethan.“ Die hilfreichsten Füße sind angenagelt, die mildesten Hände durchbohrt, das wolwollendste