Seite:Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen.pdf/372

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Fortunat, Genoveva, Kaiser Octavian, und bearbeitete mehrere bekannte Märchen, wie Däumling, Rothkäppchen, gestiefelter Kater, Blaubart, immer nach eigener, individuell scharf ausgeprägter Weise; keineswegs, um diese Stoffe einem gebildeten Publikum noch zugänglicher und angenehmer zu machen, als sie in ihrer einfachen, schlichten und volkstümlichen Form bereits waren, sondern um Zeit-Ideen, Kunstansichten, moderne Satyre hinein zu legen und den eigenen kecken Humor aus ihnen hervorblühen zu lassen. Diejenigen nun, welchen eine solche Behandlung vorgefundener Stoffe von ihrem ästhetischen Standpunkte aus zusagte, fanden jene vortrefflich, andere fanden dieß weniger, und diese, wenn sie mit ihrer entgegenstehenden Ansicht offen hervortraten, traf eben der kritische Donnerkeil der, eine feste Phalanx in der Literatur bildenden romantischen Schule.

Ungleich größer und bedeutender, wie als Haupt einer nun bereits längst der Vergangenheit angehörenden einseitigen kritisch-polemischen Richtung eines an sich allerdings sehr begabten Literatenkreises, war Tieck allein, in sich und durch sich selbst. Voll tiefer Kenntniß und edlen Geistes beherrschte er die Sprache, schuf er reizende Gedichte, wurde er der Gründer der Kunst- und Tendenz-Novelle, widmete sein ganzes Leben der Bestrebung, Shakspeare immer mehr und mehr in Deutschland einzubürgern. Mit einem Vorlese-Talent ohne gleichen begabt, las Tieck in gebildeten Kreisen, die er um sich zog, Shakspeare’sche Dramen vor, und alle, die so glücklich waren, ihn zu hören, konnten nie genug die Genüsse rühmen, welche diese Vorlesungen verschafften, und die Eindrücke, welche sie auf die Zuhörer machten. Freilich forderte Tieck, indem er an seine Vorlesungen seine ganze Seele hingab, sein ganzes geistiges Selbst, auch von den Zuhörern und Zuhörerinnen Seele und unbedingtes Hingeben an sein Lesen, und von dem gewohnten Fingerspiel des Strickstrumpfs oder der in höheren Damenkreisen an dessen Stelle getretenen Canevass und Straminstickerei, vom Geklapper der Tassen und Löffel, vom Lichterputzen mitten im Vertrag oder irgend welchem unnützen Geräusch konnte und durfte keine Rede sein.

Tieck hatte sich durch Reisen, wie durch Studium, eine hohe Geistesbildung gewonnen, und sein angeborener Genius führte ihn mit jener im Bunde den wünschenswerthesten Lebensstellungen zu. Im Jahre 1804 reiste er in Italien und 1806 lebte er in München, wo leider ein heftiger Anfall von Gicht ihn niederwarf, und ihn schwer heimsuchte. Nach der Herstellung wandte er sich nach Berlin, und im Jahr 1818 machte er eine Reise nach London, um auf englischem Boden Shakspearestudien zu machen. Im Jahr 1819 wählte er wieder das ihm von früher liebe Dresden zum dauernden Aufenthalt und wurde dort Dramaturg der königlichen Hofbühne, welcher Stellung er sich mit aller Vorliebe und aller ihm zu Gebote stehenden reichen Bühnenkenntniß hingab. Nach dem Jahre 1810 traf den berühmten Mann der ehrenvolle Ruf König Friedrich Wilhelm’s IV. von Preußen als Vorleser am Hofe und als Leiter der Schauspiele, welche von den Hofcirkeln meist in Potsdam aufgeführt wurden, wobei ihm nicht unbedeutender Einfluß auch auf die Leitung der Hofbühne selbst zugestanden war. Kränklichkeit trübte leider mehr und mehr das Leben des alternden Dichters, dem indeß vor vielen das Glück vollster Anerkennung und unbeneideten Ruhms neben einem von irdischen Sorgen befreiten Dasein zu Theil ward. Ihm vor vielen war vergönnt, sich völlig nach Lust und Neigung auszuleben, seinem ästhetischen Wirken keine engherzigen Schranken gezogen zu sehen, nicht durch lästigen Dienst abgezogen zu werden von der Sphäre seines innern Berufes, und so konnte er mit Zufriedenheit auf seine wohlvollbrachte irdische Sendung zurückschauen und zum Kreise der Unsterblichen eingehen. Höchst ehrenvoll war das Leichenbegängniß des Dichtergreises, des Nestors der deutschen Poesie, der im 79. Jahre seines Lebens von hinnen schied. Seine Vaterstadt ehrte ihn hoch, und ein seines Namens würdiges Denkmal wurde bereits zu errichten beschlossen.