Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band/Das Seil des Zimmergesellen

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Silberglocken Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band
von Ludwig Bechstein
Jagdlohn
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203.
Das Beil des Zimmergesellen.

Im Flecken Reichenbach, in der Nähe von Elsterberg und Greiz, wurde einst ein neues Haus gerichtet. Die Gesellen arbeiteten wacker, der Bauherr spendete Bier und Branntwein vollauf, der Dachstuhl war schon fast ganz in die Höhe und der Spruchsprecher stand schon mit dem Bänderstrauß bereit, den er auf den Giebel stecken wollte. Da geschah es, daß ein anderer Geselle, eben als er den letzten Schlag mit dem Axtrücken auf den Pflock thun wollte, der die Giebelbalken verbindet, das Gleichgewicht verlor, schwankte und sich nicht halten konnte, sondern [77] herunterstürzte. Glücklicherweise verlor er mit dem Gleichgewicht nicht auch die Besinnung, vielmehr besann er sich im Fallen auf seine Rettung, und hieb mit gewaltiger Kraft sein Beil, das er noch in der Hand behalten, so fest in einen Balken, daß er selbst daran hängen blieb und Zeit gewann, mit den Füßen sich anzuklammern. Keiner brachte das Beil wieder aus dem Balken und so blieb es als ein Wahrzeichen darin, als nachher das Haus vollends fertig war. Jedem Fremden wurde es gezeigt, und die Zimmerleute waren stolz auf diese Kraft und Geistesgegenwart ihres Kameraden. Lange Jahre war das Beil zu sehen, bis ein unglücklicher Brand Reichenbach heimsuchte, und auch jenes Haus sammt dem Beile des Zimmergesellen aufzehrte.