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Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band/Die Todenschauerin

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Ein Wunder des heiligen Bonifacius Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band
von Ludwig Bechstein
Die weiße Prinzessin
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[233]
370.
Die Todenschauerin.

Auf dem Schlosse zu Rudolstadt lebte einst eine Prinzessin, welcher die unerfreuliche Gabe verliehen war, bei [234] Trauerfällen des Herrscherhauses jedesmal statt der wirklichen Leiche, die eben auf dem Paradebette lag, die nächstfolgende darauf gebettet zu erblicken, mithin genau zu wissen, an Wen nun zunächst die Reihe kommen werde. Obgleich die Prinzessin, wie jene hellenische Kassandra, sich ihres prophetischen Blickes nicht freuen konnte, so versäumte sie doch nie, wenn ein Glied ihres Hauses verschieden war, in den Sarg zu schauen. Doch nannte sie, um niemandem den Lebensgenuß zu verbittern, nie das nächstfolgende Todes-Opfer, sie verschloß vielmehr das traurige Geheimniß tief im Innern. Als sie so in wehmüthiger Einsamkeit noch mehrere Verluste erlitten, mußte sie einmal, als die folgende Leiche – sich selbst erkennen. Ruhig blickte sie sich selbst als Leiche an, mit gefaßter Frömmigkeit gab sie ihren letzten Willen kund, und stark in christlicher Ergebenheit, die traurige Begabung mit in das Grab nehmend, die sich Niemand wünschen wird.