Traum und Wirklichkeit
Es schläft an meine Brust gesunken
Das holde, heißgeliebte Weib;
Ich schaue stumm und formentrunken
Den jungen, hüllenlosen Leib.
Der Locke dunkle Wege quillt!
Wie unter meinen leisen Händen
Der weiche Marmor athmend schwillt!
Da lockt mich hohe Wunderahnung
Wie eine rührend holde Mahnung
An längstvergeßnes Liebesglück.
Blieb mir aus einem frühern Leben
Der eine wehmuthmilde Klang,
Durch meiner Seele Stille schwang?
Ist das die ew’ge Schönheit wieder,
Die mir das Herz so trunken macht,
Nach der beim Anblick dieser Glieder
Und Schöpfungshimmel seh’ ich blauen
In morgenfrischer Werdelust.
Ich blicke mit erhab’nem Grauen
In das Geheimniß meiner Brust.
Wie ich in kühnem Lebensdrang,
Mitewges[ws 1] Licht vom ew’gen Lichte
Zum Erdentag mich niederschwang?
Und wie umsonst aus seinen Bahnen
Zieht machtlos mich ein kindlich Ahnen
Zum Geiste, der mir jetzt so fern. –
Da rührt sich leicht auf meinem Schooße
Vom Traum bewegt das holde Weib,
Streift leis erzitternd meinen Leib.
Es schmiegt ihr Herz mit weichem Schlage
An meine Brust sich eng und warm: –
Das Götterglück, das ich beklage,
Und muß ich’s erst mit Händen fassen,
Daß mir in lebender Gestalt
Der ew’ge Geist, den ich verlassen,
Aus diesem Leib entgegenwallt?
Der mir die eig’ne Seele schwellt?
Er ist die Harmonie der Sterne,
Die Schönheit in der Menschenwelt.
Wach’ auf, mein Lieb! Ich hab’ dich wieder,
Da regen sich die zarten Glieder,
Und lächelnd hebest du das Haupt.
Bekränze festlich deine Haare,
Laß dich mit heil’gem Kuß umfah’n!
Aus deinen Augen grüßend an.
- ↑ Nach der platonischen Philosophie entspringt die Sehnsucht beim Anblick eines schönen Gegenstandes aus der unwillkürlichen Erinnerung an die ewige Schönheit, mit der wir vor diesem Leben im Reich der Ideen vereinigt waren.