Unter dem Johanniterkreuze
Wenn wir durch die Straßen Leipzigs in den letzten Tagen viele hochaufgethürmte Wagenladungen von frischen hölzernen Bettstellen zu den hiesigen Lazarethen fahren sahen, so faßte bei dem Anblick uns ein grauenvolles Mitleid: „von wie viel und welchen Schmerzen werden diese einfachen Lager nun Zeugen sein!“ Aber wie entsetzlich wahr dieses Mitleid auch voraus gefühlt haben möge, – selbst auf diesem Marterholze ist der wunde Mann noch glücklich Dem gegenüber, was er überstanden hat.
„Aus der Hölle durch das Fegefeuer in den Himmel – das ist der Weg des Verwundeten vom Schlachtfeld bis in’s Lazareth.“
In diesem Ausspruch treffen die Erzählungen aller Verwundeten zusammen, mit denen ich in den Leipziger Lazarethen zu sprechen Gelegenheit hatte. Eine heißere oder gelindere Hölle, ein schwereres oder leichteres Fegefeuer allein unterscheiden sie, im Preisen ihres Himmels sind sie einstimmig. – Die Bedeutung dieser drei Stationen aller Verwundeten ist eine selbstverständliche: die erste begreift die fürchterliche Zeit vom Augenblick der Verwundung bis zum ersten Verband, die zweite den Transport bis zum Lazareth, und hier schon zeigt sich ein Grad des Glücks beim Uebergang vom Leiterwagen in den Eisenbahnwaggon; die dritte ist das Lazareth und noch über ihm steht die Aufnahme in eine bürgerliche Familie.
Von ihrer Höllenzeit sprechen Alle, ohne Ausnahme, noch heute mit tiefer Erregung und, wenn auch noch so verständig, doch nicht ohne Klage über den großen Mangel an willigen und hülfsbereiten Händen in den schlimmsten Augenblicken, denn selbst wen die eigenen Schmerzen nicht marterten, der litt an seiner gräßlichen Umgebung. Ein preußischer Verwundeter erzählte mir: [461] „Mich traf’s bei Gitschin. Ein Granatenstück zerriß mir den linken Arm und warf mich nieder. Meine Betäubung dauerte nicht lange; ich fühlte, daß die unteren Gliedmaßen noch heil waren, raffte mich auf und hatte das Glück, in der Nähe Wasser zu sehen. Dort setzte ich mich hin und kühlte die Wunde. Aus Taschentuch und einem Fußlappen, den ich in den Helm gesteckt hatte, suchte ich eine Art Verbandstück zu machen, aber es gelang mir nicht, ich mußte mich damit begnügen, mit dem nassen Klumpen der Verblutung zu wehren. Ich blieb nicht lange allein, noch drei meiner Cameraden schleppten sich herbei und steckten die halben Köpfe in’s Wasser, um den grimmigen Durst zu löschen, während das Blut unter der Montur vordrang, ein vierter kroch auf beiden Händen und mit einem Beine heran, das andere nachschleppend. Zwei von den Trinkenden mußten den dritten emporreißen, der ohnmächtig geworden und mit dem Kopf gar untergesunken war. Derweil schrie der Vierte jämmerlich, die Cameraden sollten ihm helfen, sein Bein in’s Wasser zu stecken. Auch das geschah. Aber wie schrie’s gar rings um uns her, als die noch schwerer Hingestreckten von Wasser hörten! Und wahrlich, wir halfen, so viel wir konnten. Einer der leichter Getroffenen band mir meinen
nassen Klumpen am Arme fest, und nun füllten wir zu dritt die Feldflaschen und Helme mit dem Wasser, das nun freilich arg genug aussah, und theilten den Jammernden mit, soweit wir konnten. Endlich war unsere Kraft am Ende, und doch schrie’s und jammerte es und zuckten die menschlichen Gliedmaßen, hoben sich flehende Hände, so weit wir sehen konnten. Dazu hinkte und kroch es nun von allen Seiten heran; ich wurde von dem Wasserloch weggedrängt, Jeder wollte nur die Zunge kühlen, trotzdem längst mehr Blut als Wasser darin war. Da machten wir zu dritt uns auf, den Verbandplatz zu suchen, wären aber nicht weit gekommen, wenn wir nicht nach wenigen Schritten das große Glück gehabt hätten, den Schlachtfeldengeln in die Hände zu laufen.“
„Ja, wie Engel erschienen sie Einem,“ nahm ein Anderer das Wort, „besonders wenn man, wie ich, den halben Tag und eine ganze Nacht im nassen Getreide vergeblich auf sie gewartet hat; sie können nichts dazu, daß der Himmel miserabel aussah, in den sie uns brachten, denn ich lag dann mit meinem Schuß durch die rechte Hüfte noch fünf volle Stunden auf dem blanken Boden in einer Scheune und mußte sogar den Säbel ziehen, um das böhmische Gesindel von mir abzuwehren, das die Auskleiderdienste bei mir verrichten wollte. Man mußte ja froh sein, nur irgendwo untergesteckt zu werden, und da konnten unsere Wachen nicht überall zur Hand sein.“
„Und ich war froh,“ erzählte ein Dritter, „wieder in’s Freie, wenn auch auf nasses Stroh, zu kommen. In der Schulstube, wo ich neben dem Ofen lag, sah es wie in einer Metzgerei aus, so lagen die amputirten menschlichen Gliedmaßen umher, dazu das gräßliche Schmerzgebrüll und Todesächzen, und endlich fand sich bald ein Pestgestank ein, der mich erstickt hätte, wenn ich nicht einem noch schwerer Verwundeten hätte Platz machen müssen.“
„Und der Hunger!“ rief Einer, „und gar der Durst!“ fielen Alle ein. „Das war doch das Schrecklichste, das einen nicht blos auf dem Schlachtfelde und in den Verbandhöhlen, sondern ganz besonders in den geschlossenen Eisenbahnwägen während der heißen Tage fast um den Verstand brachte. Ich werde keinen Güterwagen mehr ansehen können, ohne an den Marterkasten zu denken, [462] der mich aus Böhmen hierher brachte.“ Kurz, die Summe der Leiden, von denen diese sämmtlich nicht schwer Verwundeten zu erzählen hatten, war schon so groß, daß für das Maß des ganzen entsetzlichen Menschenelends, das vom Schlachtfeld bis zum Lazareth sich hinzieht, uns die Kraft der Auffassung abgeht.
Zwei große Mängel haben sich in den menschenfressenden Gefechten und Schlachten dieses mit so außerordentlich „vervollkommneten Waffen“ ausgerüsteten Krieges herausgestellt: der Mangel an helfenden Händen für das Bergen und erste Verbinden der Verwundeten, und der ebenso schwer zu beklagende Mangel an rohem Eis, durch welch letzteren die Zahl der durch Amputationen erzeugten Krüppel in’s wahrhaft Unglaubliche vermehrt worden ist. Wären die Turner (und die ebenfalls fahnenführenden Sängerschaaren) als freiwillige Retter den Heeren gefolgt und hätten Alle dann ihre Schuldigkeit mit demselben Heldenmuth gethan, wie bei Langensalza und Merxleben die braven Turner von Gotha und den Nachbarstädten, so würden viel edle Menschenleben dem Vaterlande und ihren Lieben erhalten worden sein.
Unsere Leser begleiten uns nun in einige Lazarethe. In Leipzig sind gegenwärtig deren vier eingerichtet: im neuen Gebäude des Waisenhauses, in der neuen großen Turnhalle, in dem ebenfalls neuen und großen Gebäude der fünften Bürgerschule (das Bild derselben brachte die Gartenlaube 1865, in Nr. 21) und in dem bisherigen königlich sächsischen Militär-Hospital zwischen Gohlis und Leipzig. Zu einem etwa nöthigen fünften ist das große Armenhaus ausersehen.
Wir wenden uns zuerst zum Waisenhause. Auf der Hochebene jenseits des sogenannten Johannisthals, einer langgestreckten Thalmulde, die ganz von kleinen, freundlich gepflegten, mit Lusthäuschen und Lauben geschmückten und von vielen, zwischen lebendigen Hecken und bunten Zäunen hinlaufenden Wegen durchzogenen bäume- und blumenreichen Gärten und Gärtchen eingenommen ist, erhebt sich das stattliche Gebäude mit seinen drei aus dem Hauptbau hervortretenden Flügeln und zweien Höfen, umgeben von einem großen Garten. Seine jetzige Bestimmung verkündet uns die auf seinem Dache wehende weiße Fahne mit dem rothen Kreuz, das alte Symbol des Johanniterordens, das jetzt alle internationalen Hospitäler schmückt.
Der Anblick dieser Fahne wirkt auf jedes Gemüth, das in dieser blutigen Zeit sich ihm nähert, wie ein Friedensgruß. Wer durch die Gruppen der vielen Theilnehmenden und Neugierigen, welche von früh bis Abend die Straße vor der Pforte belagern, gedrungen ist und diese Pforte mit ihren Wachtposten hinter sich hat, der sieht schon auf der Freitreppe und links und rechts in den freien Räumen die lebenden Beweise, daß dieser Gruß Wahrheit ist. Hier wandeln und sitzen viele der Genesung entgegengehende Soldaten all der drei Armeen, die im Kampfe gegeneinander gestanden, Preußen, Oesterreicher und Sachsen. Der steierische Jäger und der ungarische Husar, der böhmische Grenadier und der schlanke Italiener, der sächsische Jäger und Reiter, der Mann der preußischen Linie und der Landwehr, – sie stehen und sitzen nun ohne Groll beieinander. Die im Pulverdampf sich gegenseitig zerschmettert, thun hier einander alle mögliche Liebe an. Der junge, blühende Joppenträger mit dem Jägerhorn am Hut, der, wie ein Greis, an zwei Stöcken daherwankt, den zerschossenen Fuß vorsichtig nachziehend, wird freundlich unterstützt und geführt von dem Preußen, der, wie er, die schleswig-holsteinsche Medaille trägt. Dort mühen ein Ungar und ein Italiener sich ab, sich gegenseitig etwas verständlich zu machen, und weil dies keinem in seiner Muttersprache gelingt, so arbeiten sie mit den paar deutschen Brocken, die sie in den Garnisonen aufgelesen, ein kluges Berliner Kind aber hilft Beiden nach und zu Beider Wohlgefallen. „Wie geht’s heute?“ fragt der ehemalige Feind den Feind, besonders nach der schlimmen Stunde der Wunden-Untersuchung oder eines neuen Verbandes, und es ist wirkliche schöne Theilnahme, die aus dem befriedigten Gesicht leuchtet auf ein „Es geht besser“ oder „Es wird bald wieder werden.“
Im Garten hinter dem Gebäude steht die große sogenannte Luftbude, in welcher über einhundert der niedrigen Betten mit ihren Strohmatratzen, Kopfkissen und Wollendecken Platz fanden, auf denen Preußen, Oesterreicher und Sachsen bunt durcheinander liegen. Der Raum ist luftig und kühl, trotz der auf das getheerte Dach brennenden Sonne. Die Bedienung geht unaufhörlich auf und ab und der gute Brunnen daneben bietet vielbegehrte Labung. Im Schatten einer einfachen Breterhütte unweit davon weilt, so oft es Tageszeit und Witterung gestattet, immer eine unterhaltsame Gesellschaft. Ich habe schon manches Stündchen dort verlauscht, denn die Unterhaltung weicht und wankt nicht von dem Feld der bittersten Erlebnisse eines Jeden und wir hoffen noch manches lebendige Kriegsbild aus dieser Hütte für unsere Leser davon zu tragen. Sehr bezeichnend ist’s, wie die Preußen ihren österreichischen und sächsischen Gegnern nie mit dem geringsten Zweifel an der einzelnen Mannestapferkeit zu nahe treten; dagegen sind die Oesterreicher um so offenherziger in ihrem Urtheil über ihre eigenen Befehlshaber. „Wir haben stundenlang bei einer Holz- und Breterniederlage gestanden, aus der wir zehn solche Luftbuden, wie die da, gebaut hätten, in einer Viertelstunde hätten wir uns eine Barrikade gegen die preußischen Kugeln hergestellt, wir haben’s den Lieutenants und die den Hauptleuten und die haben’s wieder weiter und immer höher hinauf gesagt, aber nein, wir mußten uns neben und auf dem Holze hernach zusammenschießen lassen. So ging’s uns!“ erzählte ein Deutschböhme. „Und wir haben gar preußische Infanterie in einem Wald angreifen müssen,“ murrte ein sächsischer Reiter.
Dort den Gartenzaun nach der Straße entlang stehen immer Gruppen von Oesterreichern, die dem draußen versammelten Publicum ihre Schicksale erzählen und ihre Wunden zeigen. Da wird manches Gemüth gerührt und manche Gabe fällt ab, wenn auch wohl manche ungeheuerliche Nachricht von dieser Berichterstatterstelle mit fortgenommen wird.
So bunt und lebhaft das Treiben im Freien ist, so ernst, gemessen und still tritt uns Alles im Hause selbst entgegen, man mag die breiten hellen Corridore durchwandeln nach jeder Richtung, überall Ruhe, Reinlichkeit, Luft, Licht, Ordnung, Friede.
Die alten unverwischlichen Inschriften der Zimmerabtheilungen contrastiren freilich mit den neuen auf den aufgeklebten Papierblättern. Hier: „Kinderstube“ – „Knabenstation“ – „Mädchenstation“ – und jetzt: „Stationsarzt .…“, – „Assistent .…“, darüber die Namen der in dem Zimmer liegenden Verwundeten, darunter die Nummer des Zimmers und die Bettzahl, z. B. „Bett: 490–499“ – Hier Zimmer der Diakonissinnen, dort Zimmer für die wachthabenden Aerzte u. s. w. Durchschnittlich werden fünfhundert Verwundete im Waisenhause gepflegt.
In diesen stillen Räumen befinden sich die Schwerverwundeten oder an ihren Wunden noch schwer Darniederliegenden, deren erster Ausgang aus dem Bett noch nicht weiter als bis an die Fenster oder bis auf den Corridor geht. Hier begegnet man vielen Gesichtern, in denen die Schmerzenszüge noch tief ausgeprägt sind. Wie alle aus großem Unglück geretteten, aus herber Krankheit genesenden Menschen kommen auch diese jedem Fragenden so mild, gut, zuthunlich entgegen, und namentlich viele Oesterreicher fand ich so dankbar-glücklich. Sie hatten endlich die Hände kennen gelernt, in die sie gefallen waren; müssen doch nicht wenige derselben erst von der namenlosen Angst geheilt werden, die ihnen vor der preußischen Gefangenschaft eingeredet war, ehe ihre Wundenheilung mit Glück gefördert werden konnte. Oeffentliche Blätter erzählten von einem schwerverwundeten Böhmen, dem in Liegnitz eine Dame Erfrischungen darbot. Mit Augen, die in Fieber glühen, mit ganz vertrockneten Lippen weist er die Gabe in sichtlicher Angst zurück. „Schaun’s, Gnaden, der dalkete Kerl fürcht’ sich halt,“ sagt endlich sein Nebenmann, nimmt das Glas und trinkt einen tüchtigen Schluck. Erst jetzt war der Böhme überzeugt, daß er nicht vergiftet werden soll, und nahm die Labung an. Uns erzählte ein Böhme, daß die „Herren“ und die Geistlichen ihnen gesagt hätten, jeder gefangene Oesterreicher werde von den Preußen nach und nach in kleine Stücke zerschnitten, – und als wir dies ungläubig belachten, riefen seine sämmtlichen Cameraden: „Ja, ja, so ist es, so hat man es uns gesagt.“ Leider lag’s in ihren Mienen nur zu deutlich, daß sie es auch geglaubt hatten!
Ein ganz anderes Bild zeigt uns die Turnhalle. Während wir im Waisenhause, die beiden Bettenreihen der Luftbude ausgenommen, nirgends eine große Anzahl von Leidenden in einem Raume erblicken, sondern die vielen einzelnen Zimmer den Anblick des Jammers wenigstens theilen, in vielen Fällen auch ganz verschließen, und während uns besonders in den oberen Etagen des Hauses überall die tiefste Stille umgiebt, die meisten Wärter und Diener in Hausschuhen gehen, liegt beim Eintritt in den großen Turnsaal mit einer Aufschau die reihenweise Lagerstatt von Hunderten der Männer, die in der schönsten Lebenskraft an ihren Wunden [463] dahingestreckt sind, vor unseren Augen. In einer Turnhalle! In den Winkeln stehen noch Barren und Recke, im Hintergrunde ragen Säulen des Klettergerüstes auf, – die Werkzeuge, dazu bestimmt, der männlichen Körperkraft ihre höchste Ausbildung zu geben, und jetzt Jünglinge und junge Männer mit zerrissenen Gliedern, auf hundert Betten in ruhiger starrer Reihe! Der Anblick ist tief erschütternd, wenn wir uns auch zehnmal einreden, daß wir meist nur leichter Verwundete vor uns sehen, die wenigstens sicherlich mit dem Leben davon kommen.
Mit dem Leben freilich, aber in welchen Gestalten! Wie viel Tausend Verkrüppelte kehren aus diesem Krieg in ihre Heimath zurück! Die lebhafteste Phantasie kann die vielerlei Verwundungsarten nicht ersinnen, die dieser eine Saal in sich schließt. So viel Gliedmaßen der Mensch eben besitzt, so viele sind verletzt und verstümmelt in allen möglichen Graden des Mehr oder Weniger. Ein Landwehrmann zeigte mir seine beiden durchschossenen Hände. „Beide Hände! Ich hätte ein Bein drum gegeben, wenn ich meine gesunden Hände behalten hätte.“ Und doch ist der Mann vor Tausenden glücklich, wie schon ein Blick auf die Hunderte lehrt, die hier herum liegen und sitzen, hinken und kauern.
Trotz des großen Zusammenlagerns der Verwundeten im Saal und auf den Galerien herrscht auch hier, neben der selbstverständlichen Ordnung, angemessene Ruhe. – Nur ein Labsal hat der Verwundete auf dem oft langwierigen Krankenlager, und das ist das Rauchen. Was jene Oesterreicher in Liebau sagten, kann man hier alltäglich hören: „Jetzt, wann wir nöt mehr rauchen könnten, hernach da wärsch bald vorbei.“ Die Glücklichen, welche Tags über bereits das Bett verlassen dürfen, zieht es in’s Freie hinaus, auf die Freitreppe der Turnhalle und die breite Straße vor derselben; Andere gehen in der Stadt umher, die Oesterreicher, als Gefangene, unter Aufsicht.
Auch vor der Turnhalle bilden sich die verschiedensten „internationalen“ Gruppen und hier um so leichter als im Waisenhaus, weil dort der Zutritt überhaupt nur den Verwandten der Verwundeten gestattet ist. Die neu eingerückten preußischen Truppen suchen Bekannte und Freunde, und finden sich solche, so ist’s ein rührend schönes Wiedersehen. „Und was macht Der? Wo ist Jener?“ – Da laufen Trost- und Hoffnungs- und Trauerbotschaften so hart durcheinander, wie die Kriegswürfel mit dem Leben spielten. Man muß sich immer wieder daran erinnern, daß wir in einem furchtbaren Krieg leben, um dies Alles nicht für Zeitungsneuigkeiten aus weiter Ferne oder gar für einen Traum zu halten.
Warum soll man es verschweigen, wenn auch ein liebliches Bild zwischen den ernsten auftaucht? Am Gitter saß ein österreichischer Jäger, blutjung und bildschön, den Mantel um den verbundenen Arm hüllend. Mit ihm machte ein ebenso hübsches Mädchen sich gar sorglich zu schaffen, so daß man’s nur gern ansah. Zwei Paar so schöne Augen, – wer kann dafür, wenn etwa die geheimnißvollen unsichtbaren Fäden, die durch die Augen bis in’s Herz gehen, sich unlösbar verwickeln?
Einen recht erfreuenden Anblick gewähren endlich die Abfahrten vom Lazareth in Bürgerhäuser, d. h. aus dem Himmel des Lazareths in den höheren Himmel der Familienpflege. Daß dies viel geschieht, thut Einem im Herzen der braven Leipziger wohl. „Ihr glaubt nicht, wie mein Preuße sich gestreckt hat,“ erzählte ein Bürger, „ich weckte ihn zum Frühstück und zum besten Gläschen Wein, er aber blieb ruhig im Halbschlummer liegen und sagte nur: ‚Ach, wie wohl, wie wohl!‘“ Nach wochenlangem Lagern auf schlechter Streu oder der bloßen Erde und wochenlangem Liegen auf der Lazareth-Matratze – endlich ein Bett: wahrlich, Millionen wissen es nicht, welche Seligkeit für den Genesenden in dem Uebergang von der Strohmatratze zum lieben sanften, häuslichen, stillen Bette liegt!
Trotz dieser und vieler andern einzelnen schönen Beispiele von patriotischem Sinn und wahrer Herzensbildung müssen wir dennoch leider beklagen, daß die Opferfähigkeit der Deutschen in diesem Krieg sich noch keineswegs glänzend gezeigt hat. Kommt auch das Unglück von Tausenden in nie erhörter Größe und Plötzlichkeit über uns, so zählen wir dafür nach Millionen und es dürften nicht die unaufhörlichen Jammerschreie aus Böhmen und Schlesien so nothwendig sein, wie dies der Fall ist. Es steht das Schicksal Deutschlands für seine ganze Zukunft auf dem Spiel – um keinen Athemzug geringer, als beim Bürgerkrieg Nordamerikas! – und was haben die Bürger jenes Landes geopfert, freiwillig dargebracht an Blut und Gut – und was hat bis heute Deutschland aufgebracht? Und welche Lock- und Reizmittel, welche Aufrufe und Bitten sind dazu nöthig erfunden worden, um nur das bis jetzt so Wenige möglich zu machen! Hat man in Nordamerika auch musikalische Abendunterhaltungen zum Gabensammeln, hat man zum Charpiezupfen Gartenmusik bedurft?
Man wird es einst nicht glauben, daß in patriotischer Opferfähigkeit Deutschland so tief stand, als es seine höchste Höhe ersteigen sollte!“