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Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen/T1H3 Vortrag

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Neunte Abtheilung. Von den Verzierungen der Fermaten Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen – Erster Theil (1759) von Carl Philipp Emanuel Bach
Drittes Hauptstück. Vom Vortrage
Exempel


[101]
Drittes Hauptstück.
Vom Vortrage.


 §. 1.  Es ist unstreitig ein Vorurtheil, als wenn die Stärcke eines Clavieristen in der blossen Geschwindigkeit bestünde. Man kan die fertigsten Finger, einfache und doppelte Triller haben, die Applicatur verstehen, vom Blatte treffen, es mögen so viele Schlüssel im Laufe des Stückes vorkommen als sie wollen, alles ohne viele Mühe aus dem Stegereif transponiren, Decimen, ja Duodecimen greifen, Läufer und Kreutzsprünge von allerley Arten machen können, und was dergleichen mehr ist; und man kan bey dem allen noch nicht ein deutlicher, ein gefälliger, ein rührender Clavieriste seyn. Die Erfahrung lehret es mehr als zu oft, wie die Treffer und geschwinden Spieler von Profeßion nichts weniger als diese Eigenschaften besitzen, wie sie zwar durch die Finger das Gesicht in Verwunderung setzen, der empfindlichen Seele eines Zuhörers aber gar nichts zu thun geben. Sie überraschen das Ohr, ohne es zu vergnügen, und betäuben den Verstand, ohne ihm genung zu thun. Ich spreche hiemit dem Spielen aus dem Stegereif nicht sein gebührendes Lob ab. Es ist rühmlich, eine Fertigkeit darinnen zu haben, und ich rathe es selbst einem jeden aufs beste an. Es darf aber ein blosser Treffer wohl nicht auf die wahrhaften Verdienste desjenigen Ansprüche machen, der mehr das Ohr als das Gesicht, und mehr das Hertz als das Ohr in eine sanfte Empfindung zu versetzen und dahin, wo er will, zu reisen vermögend ist. Es ist [102] wohl selten möglich, ein Stück bey dem ersten Anblicke sogleich nach seinem wahren Inhalt und Affect wegzuspielen. In den geübtesten Orchestern wird ja oft über einige, den Noten nach sehr leichte Sachen mehr als eine Probe angestellet. Die meisten Treffer werden viemahls nichts mehr thun, als daß sie die Noten treffen, und wie vieles wird vielleicht nicht der Zusammenhang und die Verbindung der Melodie leiden, wenn auch im geringsten nicht in der Harmonie gestolpert würde? Es ist ein Vorzug fürs Clavier, daß man es in der Geschwindigkeit darauf höher als einem andern Instrumente bringen kan. Man muß aber diese Geschwindigkeit nicht mißbrauchen. Man verspare sie bis auf die Gänge, wo man ihrer nöthig hat, ohne gleich das Tempo vom Anfange zu überschreiten. Daß ich der Geschwindigkeit nicht ihr Verdienst, und folglich weder ihren Nutzen noch Nothwendigkeit nehme, wird man daraus abnehmen, daß ich verlange, daß die Probe-Stücke aus dem G und F moll, und die aus den kleinsten Noten bestehenden Läufer in dem, aus dem C moll aufs hurtigste wiewohl deutlich gespielet werden müssen. In einigen auswärtigen Gegenden herrschet gegentheils besonders dieser Fehler sehr starck, daß man die Adagios zu hurtig und die Allegros zu langsam spielet. Was für ein Widerspruch in einer solchen Art von Ausführung stecke, braucht man nicht methodisch darzuthun. Doch halte man nicht dafür, als ob ich hiemit diejenigen trägen und steifen Hände rechtfertigen will, die einen aus Gefälligkeit einschläfern, die unter dem Vorwande des sangbaren das Instrument nicht zu beleben wissen, und durch den verdrießlichen Vortrag ihrer gähnenden Einfälle noch weit mehrere Vorwürfe, als die geschwinden Spieler verdienen. Diese letztern sind zum wenigsten noch der Verbesserung fähig; ihr Feuer kan gedämpfet werden, wenn man sie ausdrücklich zur Langsamkeit anhält, [103] da das hypochondrische Wesen, das aus den matten Fingern bis zum Eckel hervorblicket, wohl wenig oder gar nicht durch das Gegentheil zu heben ist. Beyde übrigens üben ihr Instrument blos maschienenmäßig aus, da zu dem rührenden Spielen gute Köpfe erfodert werden, die sich gewissen vernünftigen Regeln zu unterwerfen und darnach ihre Stücke vorzutragen fähig sind.

 §. 2.  Worinn aber besteht der gute Vortrag? in nichts anderem als der Fertigkeit, musikalische Gedancken nach ihrem wahren Inhalte und Affect singend oder spielend dem Gehöre empfindlich zu machen. Man kan durch die Verschiedenheit desselben einerley Gedancken dem Ohre so veränderlich machen, daß man kaum mehr empfindet, daß es einerley Gedancken gewesen sind.

 §. 3.  Die Gegenstände des Vortrages sind die Stärcke und Schwäche der Töne, ihr Druck, Schnellen, Ziehen, Stossen, Beben, Brechen, Halten, Schleppen und Fortgehen. Wer diese Dinge entweder gar nicht oder zur unrechten Zeit gebrauchet, der hat einen schlechten Vortrag.

 §. 4.  Der gute Vortrag ist also sofort daran zu erkennen, wenn man alle Noten nebst den ihnen zugemessenen guten Manieren zu rechter Zeit in ihrer gehörigen Stärcke durch einen nach dem wahren Inhalte des Stücks abgewognen Druck mit einer Leichtigkeit hören läßt. Hieraus entstehet das Runde, Reine und Fliessende in der Spielart, und wird man dadurch deutlich und ausdrückend. Man muß aber zu dem Ende die Beschaffenheit desjenigen Instruments, worauf man spielet, wohl untersuchen, damit man es weder zu wenig, noch zu viel angreife. Manches Clavier giebt nicht eher seinen vollkommen und reinen Ton von sich, als wenn man es starck angreift; ein anderes wiederum muß sehr geschonet werden, oder man übertreibt das Ansprechen des Tons. Diese Anmerckung, die schon im Eingange gemacht [104] worden, wiederhohle ich allhier deswegen noch einmahl, damit man auf eine vernünftigere Art, als insgemein geschiehet, nemlich nicht durch eine übertriebene Gewalt des Anschlages, sondern vielmehr durch harmonische und melodische Figuren, z. E. die Raserey, den Zorn oder andere gewaltige Affecten vorzustellen suche. Auch in den geschwindesten Gedancken muß man hiebey jeder Note ihren gehörigen Druck geben; sonsten ist der Anschlag ungleich und undeutlich. Diese Gedancken werden gemeiniglich nach der bey den Trillern angeführten Art geschnellet.

 §. 5.  Die Lebhaftigkeit des Allegro wird gemeiniglich in gestossenen Noten und das Zärtliche des Adagio in getragenen und geschleiften Noten vorgestellet. Man hat also beym Vortrage darauf zu sehen, daß diese Art und Eigenschaft des Allegro und Adagio in Obacht genommen werde, wenn auch dieses bey den Stücken nicht angedeutet ist, und der Spieler noch nicht hinlängliche Einsichten in den Affect eines Stückes hat. Ich setze oben mit Fleiß gemeiniglich, weil ich wohl weiß, daß allerhand Arten von Noten bey allerhand Arten der Zeit-Maasse vorkommen können.

 §. 6.  Einige Personen spielen klebericht, als wenn sie Leim zwischen den Fingern hätten. Ihr Anschlag ist zu lang, indem sie die Noten über die Zeit liegen lassen. Andere haben es verbessern wollen, und spielen zu kurtz; als wenn die Tasten glühend wären. Es thut aber auch schlecht. Die Mittelstrasse ist die beste; ich rede hievon überhaupt; alle Arten des Anschlages sind zur rechten Zeit gut.

 §. 7.  Wegen Mangel des langen Tonhaltens und des vollkommnen Ab- und Zunehmen des Tones, welches man nicht unrecht durch Schatten und Licht mahlerisch ausdrückt, ist es keine geringe Aufgabe, auf unserm Instrumente ein Adagio singend zu [105] spielen, ohne durch zu wenige Ausfüllungen zu viel Zeitraum und Einfalt blicken zu lassen, oder durch zu viele bunte Noten undeutlich und lächerlich zu werden. Indessen, da die Sänger und diejenigen Instrumentisten, die diesen Mangel nicht empfinden, ebenfalls nur selten die langen Noten ohne Zierrathen vortragen dürfen, um keine Ermüdung und Schläfrigkeit blicken zu lassen, und da bey unserm Instrumente dieser Mangel vorzüglich durch verschiedene Hülfsmittel, harmonische Brechungen, und dergleichen hinlänglich ersetzet wird, über dieses auch das Gehör auf dem Claviere mehr Bewegung leiden kan, als sonsten: so kan man mit gutem Erfolge Proben ablegen, womit man zufrieden seyn kan, man müßte denn besonders wider das Clavier eingenommen seyn. Die Mittelstrasse ist freylich schwer hierinnen zu finden, aber doch nicht unmöglich; zudem so sind unsere meisten Hülfsmittel zum Aushalten, z. E. die Triller und Mordenten, bey der Stimme und andern Instrumenten so gut gewöhnlich als bey dem unsrigen. Es müssen aber alle diese Manieren rund und dergestalt vorgetragen werden, daß man glauben sollte, man höre blosse simple Noten. Es gehört hiezu eine Freyheit, die alles sclavische und maschinenmäßige ausschliesset. Aus der Seele muß man spielen, und nicht wie ein abgerichteter Vogel. Ein Clavierist von dieser Art verdienet allezeit mehr Danck als ein andrer Musikus. Diesem letztern ist es ehe zu verdenken, wenn er bizarr singt oder spielt, als jenem.

 §. 8.  Um eine Einsicht in den wahren Inhalt und Affect eines Stückes zu erlangen, und in Ermangelung der nöthigen Zeichen, die darinnen vorkommenden Noten zu beurtheilen, ob sie geschleift oder gestossen u. s. w. werden sollen, ingleichen, was bey Anbringung der Manieren in Acht zu nehmen ist, thut man wohl, daß man sich Gelegenheit verschaffet, so wohl eintzelne Musicos [106] als gantze Musickübende Gesellschaften zu hören. Dieses ist um so viel nöthiger, je mehrern zufälligen Dingen meistentheils diese Schönheiten unterworfen sind. Man muß die Manieren in einer nach dem Affect abgemeßnen Stärcke und Eintheilung des Tackts anbringen. Wiewohl man, um nicht undeutlich zu werden, alle Pausen so wohl als Noten nach der Stränge der erwehlten Bewegung halten muß, ausgenommen in Fermaten und Cadentzen: So kan man doch öfters die schönsten Fehler wider den Tackt mit Fleiß begehen, doch mit diesem Unterscheid, daß, wenn man alleine oder mit wenigen und zwar verständigen Personen spielt, solches dergestalt geschehen kan, daß man der gantzen Bewegung zuweilen einige Gewalt anthut; die Begleitenden werden darüber, anstatt sich irren zu lassen, vielmehr aufmercksam werden, und in unsere Absichten einschlagen; daß aber, wenn man mit starcker Begleitung, und zwar wenn selbige aus vermischten Personen von ungleicher Stärcke besteht, man blos in seiner Stimme allein wider die Eintheilung des Tackts eine Aenderung vornehmen kan, indem die Hauptbewegung desselben genau gehalten werden muß.

 §. 9.  Alle Schwürigkeiten in Passagien sind durch eine starcke Uebung zu erlernen, und erfordern in der That nicht so viele Mühe als der gute Vortrag einfacher Noten. Diese machen manchem zu schaffen, welcher das Clavier für simpler hält als es ist. So faustfertig man unterdessen sey: so traue man sich nicht mehr zu als man bezwingen kan, wenn man öffentlich spielt, indem man alsdenn selten in der gehörigen Gelassenheit, auch nicht allezeit gleich aufgeräumt ist. Seine Fähigkeit und Disposition kan man an den geschwindesten und schwersten Passagien abmessen, damit man sich nicht übertreibe und hernach stecken bleibe. Diejenigen Gänge, welche zu Hause mit Mühe und [107] sogar nur dann und wann glücken, muß man öffentlich weglassen, man müßte denn in einer gantz besondern Fassung des Gemüthes seyn. Auch durch Probirung der Triller und andrer kleinen Manieren kan man das Instrument zuvor erforschen. Alle diese Vorsichten sind aus zweyerley Ursachen nothwendig, erstlich, damit der Vortrag leicht und fliessend sey, und ferner, damit man gewisse ängstliche Gebährden vermeiden könne, die die Zuhörer, anstatt sie zu ermuntern, vielmehr verdrießlich machen müssen.

 §. 10.  Der Grad der Bewegung läßt sich so wohl nach dem Inhalte des Stückes überhaupt, den man durch gewisse bekannte italiänische Kunst-Wörter anzuzeigen pflegt, als besonders aus den geschwindesten Noten und Figuren darinnen beurtheilen. Bey dieser Untersuchung wird man sich in den Stand setzen, weder im Allegro übereilend, noch im Adagio zu schläfrig zu werden.

 §. 11.  Die begleitenden Stimmen muß man, soviel möglich, von derjenigen Hand verschonen, welche den herrschenden Gesang führet, damit sie selbigen mit aller Freyheit ungehindert geschickt herausbringen könne.

 §. 12.  Wir haben im §. 8. als ein Mittel, den guten Vortrag zu erlernen, die Besuchung guter Musicken vorgeschlagen. Wir fügen allhier noch hinzu, daß man keine Gelegenheit verabsäumen müsse, geschickte Sänger besonders zu hören: Man lernet dadurch singend dencken, und wird man wohl thun, daß man sich hernach selbst einen Gedancken vorsinget, um den rechten Vortrag desselben zu treffen. Dieses wird allezeit von grösserm Nutzen seyn, als solches aus weitläuftigen Büchern und Discursen zu hohlen, worinn man von nichts anderm als von Natur, Geschmack, Gesang, Melodie, höret, ungeachtet ihre Urheber öfters nicht im Stande sind, zwey Noten zu setzen, welche [108] natürlich, schmackhaft, singend und melodisch sind, da sie doch gleichwohl alle diese Gaben und Vorzüge nach ihrer Willkühr bald diesem bald jenem, jedoch meistens mit einer unglücklichen Wahl, austheilen.

 §. 13.  Indem ein Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affecten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestalt am besten zur Mit-Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traurig. Man sieht und hört es ihm an. Dieses geschieht ebenfalls bey heftigen, lustigen, und andern Arten von Gedancken, wo er sich alsdenn in diese Affecten setzet. Kaum, daß er einen stillt, so erregt er einen andern, folglich wechselt er beständig mit Leidenschaften ab. Diese Schuldigkeit beobachtet er überhaupt bey Stücken, welche ausdrückend gesetzt sind, sie mögen von ihm selbst oder von jemanden anders herrühren; im letztern Falle muß er dieselbe Leidenschaften bey sich empfinden, welche der Urheber des fremden Stücks bey dessen Verfertigung hatte. Besonders aber kan ein Clavieriste vorzüglich auf allerley Art sich der Gemüther seiner Zuhörer durch Fantasien aus dem Kopfe bemeistern. Daß alles dieses ohne die geringsten Gebehrden abgehen könne, wird derjenige blos läugnen, welcher durch seine Unempfindlichkeit genöthigt ist, wie ein geschnitztes Bild vor dem Instrumente zu sitzen. So unanständig und schädlich heßliche Gebährden sind: so nützlich sind die guten, indem sie unsern Absichten bey den Zuhörern zu Hülfe kommen. Diese letztern Ausüber machen ungeachtet ihrer Fertigkeit ihren sonst nicht übeln Stücken oft selbsten schlechte Ehre. Sie wissen nicht, was darinnen steckt, weil sie es nicht herausbringen können. Spielt solche Stücke aber ein anderer, welcher [109] zärtliche Empfindungen besitzet, und den guten Vortrag in seiner Gewalt hat; so erfahren sie mit Verwunderung, daß ihre Wercke mehr enthalten, als sie gewust und geglaubt haben. Man sieht hieraus, daß ein guter Vortrag auch ein mittelmäßiges Stück erheben, und ihm Beyfall erwerben kan.

 §. 14.  Aus der Menge der Affecten, welche die Musick erregen kan, sieht man, was für besondre Gaben ein vollkommner Musickus haben müsse, und mit wie vieler Klugheit er sie zu gebrauchen habe, damit er zugleich seine Zuhörer, und nach dieser ihrer Gesinnung den Inhalt seiner vorzutragenden Wahrheiten, den Ort, und andere Umstände mehr in Erwegung ziehe. Da die Natur auf eine so weise Art die Musick mit so vielen Veränderungen begabet hat, damit ein jeder daran Antheil nehmen könne: so ist ein Musickus also auch schuldig, so viel ihm möglich ist, allerley Arten von Zuhörern zu befriedigen.

 §. 15.  Wir haben oben angeführt, daß ein Clavieriste besonders durch Fantasien, welche nicht in auswendig gelernten Passagien oder gestohlnen Gedancken bestehen, sondern aus einer guten musickalischen Seele herkommen müssen, das Sprechende, das hurtig überraschende von einem Affecte zum andern, alleine vorzüglich vor den übrigen Ton-Künstlern ausüben kan; Ich habe hiervon in dem letzten Probe-Stück eine kleine Anleitung entworfen. Hierbey ist nach der gewöhnlichen Art der schlechte Tact vorgezeichnet, ohne sich daran zu binden, was die Eintheilung des Gantzen betrift; aus dieser Ursache sind allezeit bey dieser Art von Stücken die Abtheilungen des Tactes weggeblieben. Die Dauer der Noten wird durch das vorgesetzte Moderato überhaupt und durch die Verhältniß der Noten unter sich besonders bestimmt. Die Triolen sind hier ebenfalls durch die blosse Figur von drey Noten zu erkennen. Das Fantasiren ohne Tact [110] scheint überhaupt zu Ausdrückung der Affecten besonders geschickt zu seyn, weil jede Tact-Art eine Art von Zwang mit sich führet. Man siehet wenigstens aus den Recitativen mit einer Begleitung, daß das Tempo und die Tact-Arten oft verändert werden müssen, um viele Affecten kurtz hinter einander zu erregen und zu stillen. Der Tact ist alsdenn oft bloß der Schreib-Art wegen vorgezeichnet, ohne daß man hieran gebunden ist. Da wir nun ohne diese Umstände mit aller Freyheit, ohne Tact, durch Fantasien dieses auf unserm Instrumente bewerckstelligen können, so hat es dieserwegen einen besondern Vorzug.

 §. 16.  Indem man also ein jedes Stück nach seinem wahren Inhalte, und mit dem gehörigen Affecte spielen soll; so thun die Componisten wohl, wenn sie ihren Ausarbeitungen ausser der Bezeichnung des Tempo, annoch solche Wörter vorsetzen, wodurch der Inhalt derselben erkläret wird. So gut diese Vorsicht ist, so wenig würde sie hinlänglich seyn, das Verhudeln ihrer Stücke zu verhindern, wenn sie nicht auch zugleich die gewöhnlichen Zeichen, welche den Vortrag angehen, den Noten beyfügten. Wegen des ersten Puncts wird man mir leichte vergeben, wenn man bey den Probe-Stücken einige Wörter findet, welche eben so gar gewöhnlich nicht seyn mögen, ob sie schon zu meiner Absicht bequem gewesen sind. Wegen der Zeichen habe ich bey denselben die nöthige Sorgfalt gleichfalls gebrauchet, weil ich gewiß weiß, daß sie bey unserm Instrumente eben so nöthig sind als bey andern. Wenn eine Stimme anders vorgetragen werden soll als die übrigen, so hat sie deswegen ihr besonderes Zeichen, ausserdem aber gehört ein solches Zeichen der gantzen Hand zu, sie mag eine oder mehrere Stimmen spielen. Die blosse Figur dieser Zeichen mag vielleicht bekannter seyn als die Wissenschaft, solche gleichsam zu beleben, und die abgezielte Würckung [111] davon hervor zu bringen. Zu dem Ende wollen wir das Vornehmste deswegen in einigen Exempeln und Erklärungen beyfügen.

 §. 17.  Das Anschlagen der Tasten oder ihr Druck ist einerley. Alles hänget von der Stärcke oder von der Länge desselben ab. Die Noten, welche gestossen werden sollen, werden sowohl durch darüber gesetzte Strichelchen als auch durch Puncte bezeichnet Tab. VI. Fig. I. Wir haben dismahl die letztere Art gewählet, weil bey der erstern leicht eine Zweydeutigkeit wegen der Ziffern hätte vorgehen können. Man muß mit Unterschied abstossen, und die Geltung der Note, ob solche ein halber Tact, Viertheil oder Achttheil ist, ob die Zeit-Maasse[WS 1] hurtig oder langsam, ob der Gedancke forte oder piano ist, erwegen; diese Noten werden allezeit etwas weniger als die Hälfte gehalten. Ueberhaupt kan man sagen, daß das Stossen mehrentheils bey springenden Noten und in geschwinder Zeit-Maasse vorkommt.

 §. 18.  Die Noten welche geschleift werden sollen, müssen ausgehalten werden, man deutet sie mit darüber gesetzten Bogen an Fig. II. Dieses Ziehen dauret so lange als der Bogen ist. Bey Figuren von 2 und 4 solcher Noten, kriegt die erste und dritte einen etwas stärckern Druck, als die zweyte und vierte, doch so, daß man es kaum mercket. Bey Figuren von drey Noten kriegt die erste diesen Druck. Bey andern Fällen kriegt die Note diesen Druck, wo der Bogen anfängt. Man pflegt zuweilen der Bequemlichkeit wegen bey Stücken, wo viele gestossene oder gezogene Noten hintereinander vorkommen, nur im Anfange die erstern zu bezeichnen, und es versteht sich, daß diese Zeichen so lange gelten, bis sie aufgehoben werden. Wenn Schleiffungen über gebrochene Harmonien vorkommen, so kan [112] man zugleich mit der gantzen Harmonie liegen bleiben Fig. III. In dem Probe-Stück aus dem E dur kommt dieser Fall oft vor, man erhält hierdurch ausser der besonders guten Würckung eine leichtere und besser zu übersehende Schreib-Art. In dem Probe-Stück aus dem As ist dieser Fall in besonderen Stimmen ausgeschrieben, damit man diese Schreib-Art, welche die Franzosen besonders starck brauchen, kennen lerne. Ueberhaupt zu sagen, so kommen die Schleifungen mehrentheils bey gehenden Noten und in langsamer oder gemäßigter Zeit-Maasse vor.

 §. 19.  Die bey Fig. IV. befindlichen Noten werden gezogen und jede kriegt zugleich einen mercklichen Druck. Das Verbinden der Noten durch Bogen mit Puncten nennt man bey dem Claviere eigentlich das Tragen der Töne.

 §. 20.  Eine lange und affectuöse Note verträgt eine Bebung, indem man mit dem auf der Taste liegen bleibenden Finger solche gleichsam wiegt; das Zeichen davon sehen wir bey Fig. IV. (a).

 §. 21.  Die Fig. V. befindlichen Noten spielt man so, daß der Anfang des Bogens mit dem Finger einen kleinen Druck kriegt. Die Noten bey Fig. VI. werden eben so gespielt, nur mit dem Unterscheid, daß das Ende des Bogens nicht ausgehalten wird, weil man den Finger bald aufheben muß. Der Ausdruck bey Fig. IV. geht nur auf dem Clavicorde an; der bey V und VI. aber so wohl auf dem Flügel als Clavicorde. Der Ausdruck bey Fig. V und VI. muß nicht mit dem Ausdrucke bey Fig. VI. (a) verwechselt werden. Anfänger begehen diesen Fehler leicht.

 §. 22.  Die Noten, welche weder gestossen noch geschleift noch ausgehalten werden, unterhält man so lange als ihre Hälfte beträgt; es sey denn, daß das Wörtlein Ten: (gehalten) darüber [113] steht, in welchem Falle man sie aushalten muß. Diese Art Noten sind gemeiniglich die Achttheile und Viertheile in gemäßigter und langsamer Zeit-Maasse, und müssen nicht unkräftig, sondern mit einem Feuer und gantz gelinden Stosse gespielt werden.

 §. 23.  Die kurtzen Noten nach vorgegangenen Puncten werden allezeit kürtzer abgefertiget als ihre Schreib-Art erfordert, folglich ist es ein Ueberfluß diese kurtze Noten mit Puncten oder Strichen zu bezeichnen. Bey Fig. VII. sehen wir ihren Ausdruck. Zuweilen erfordert die Eintheilung, daß man der Schreib-Art gemäß verfährt (*). Die Puncte bey langen Noten, ingleichen die bey kurtzen Noten in langsamer Zeit-Maasse und auch eintzeln werden insgemein gehalten. Kommen aber, zumahl in geschwindem Tempo, viele hintereinander vor, so werden sie oft nicht gehalten, ohngeacht die Schreib-Art es erfordert. Es ist also wegen dieser Veränderung am besten, daß man alles gehörig andeutet, widrigenfalls kan man aus dem Inhalte eines Stückes hierinnen vieles Licht bekommen. Die Puncte bey kurtzen Noten, worauf ungleich kürtzere nachfolgen, werden ausgehalten Fig. VIII.

 §. 24.  Die erste Note von den bey Fig. IX. befindlichen Figuren, weil sie geschleift werden, wird nicht zu kurtz abgefertiget, wenn das Tempo gemäßigt oder langsam ist, weil sonst zu viel Zeit-Raum übrig bleiben würde. Diese erste Note wird durch einen gelinden Druck, aber ja nicht durch einen kurtzen Stoß oder zu schnellen Ruck marquirt.

 §. 25.  Bey langen Aushaltungen hat man die Freyheit, die lange gebundene Note dann und wann wieder anzuschlagen Fig. X.

[114]  §. 26.  Die gewöhnlichen Zeichen der gebrochenen Harmonie sehen wir samt ihrer Würckung Fig. XI. Unter (*) bemercken wir die Brechungen mit Acciaccaturen. Wenn bey langen Noten das Wort arpeggio stehet, so wird die Harmonie einige mahl hinauf und herunter gebrochen.

 §. 27.  Seit dem häufigen Gebrauche der Triolen bey dem so genannten schlechten oder Vier Viertheil-Tacte, ingleichen bey dem Zwey- oder Dreyviertheil-Tacte findet man viele Stücke, die statt dieser Tact-Arten oft bequemer mit dem Zwölf, Neun oder Sechs Achttheil-Tacte vorgezeichnet würden. Man theilt alsdann die bey Fig. XII. befindlichen Noten wegen der andern Stimme so ein, wie wir allda sehen. Hierdurch wird der Nachschlag, welcher oft unangenehm, allezeit aber schwer fällt, vermieden.

 §. 28.  Fig. XIII. zeigt uns unterschiedene Exempel, wo man aus Affect bisweilen so wohl die Noten als Pausen länger gelten läßt, als die Schreib-Art erfordert. Dieses Anhalten habe ich theils deutlich ausgeschrieben, theils durch kleine Kreutze angedeutet. Das letzte Exempel zeigt, daß ein Gedancke mit zwey verschiedenen Begleitungen Gelegenheit zum Anhalten giebt. Ueberhaupt geht dieser Ausdruck eher in langsamer oder gemäßigter als sehr geschwinder Zeit-Maasse an. Im ersten Allegro und drauf folgenden Adagio der sechsten Sonate in H moll meines zweyten gedruckten Theils sind auch Exempel hiervon. Besonders im Adagio kommt ein Gedancke durch eine dreymahlige Transposition, in der rechten Hand mit Octaven und in der lincken mit geschwinden Noten vor; dieser wird geschickt durch ein allmähliges gelindes Eilen bey jeder Uebersetzung ausgeführet, welches kurtz drauf sehr wohl mit einem schläfrigen Anhalten im Tacte abwechselt.

[115]  §. 29.  P. bedeutet Piano; dieses piano wird durch die Vermehrung dieses Buchstabens noch schwächer. M. f. bedeutet mezzo forte oder halb starck. F bedeutet forte, dieses forte wird stärcker wenn man diesem f mehrere beyfügt. Damit man alle Arten vom pianißimo bis zum fortißimo deutlich zu hören kriege, so muß man das Clavier etwas ernsthaft mit einiger Kraft, nur nicht dreschend angreiffen; man muß gegentheils auch nicht zu heuchlerisch darüber wegfahren. Es ist nicht wohl möglich, die Fälle zu bestimmen, wo forte oder piano statt hat, weil auch die besten Regeln eben so viel Ausnahmen leiden als sie fest setzen; die besondere Würckung dieses Schatten und Lichts hängt von den Gedancken, von der Verbindung der Gedancken, und überhaupt von dem Componisten ab, welcher eben so wohl mit Ursache das Forte da anbringen kan, wo ein andermahl piano gewesen ist, und oft einen Gedancken sammt seinen Con- und Dissonanzen einmahl forte und das andre mahl piano bezeichnet. Deßwegen pflegt man gerne die wiederholten Gedancken, sie mögen in eben derjenigen Modulation oder in einer andern, zumahl wenn sie mit verschiednen Harmonien begleitet werden, wiederum erscheinen, durch forte und piano zu unterscheiden. Indessen kan man mercken, daß die Dissonanzen insgemein stärcker und die Consonanzen schwächer gespielt werden, weil jene die Leidenschaften mit Nachdruck erheben und diese solche beruhigen, Fig. XIV. (a). Ein besonderer Schwung der Gedancken, welcher einen heftigen Affect erregen soll, muß starck ausgedruckt werden. Die so genannten Betrügereyen spielt man dahero, weil sie oft deßwegen angebracht werden, gemeiniglich forte (b). Man kan allenfalls auch diese Regel mercken, welche nicht ohne Grund ist, daß die Töne eines Gesangs, welche ausser der Leiter ihrer Ton-Art sind, gerne das forte vertragen, ohne Absicht, ob es [116] Con- oder Dissonanzen sind, und daß gegentheils die Töne, welche in der Leiter ihrer modulirenden Ton-Art stehen, gerne piano gespielt werden, sie mögen consoniren oder dissoniren (c). Wegen der Kürtze habe ich in den Exempeln hierüber das f. und p. häufen müssen, ohngeacht ich wohl weiß, daß diese Art, alle Augenblicke Schatten und Licht anzubringen, verwerflich ist, weil sie statt der Deutlichkeit eine Dunckelheit hervor bringet, und statt des Frappanten zuletzt etwas gewöhnliches wird. Ohngeacht alle forte und piano in den Probe-Stücken sorgfältig angedeutet sind, so ist es doch nöthig, wegen der Manieren das im zweyten Haupt-Stücke davon bemerckte, in so ferne der Vortrag dieser Manieren sich mit dem forte und piano beschäftigt, in acht zu nehmen. Spielt man diese Probe-Stücke auf einem Flügel mit mehr als einem Grifbrette, so bleibt man mit dem forte und piano, welches bey einzeln Noten vorkommt, auf demselben; man wechselt hierinnen nicht eher, als bis gantze Passagien sich durch forte und piano unterscheiden. Auf dem Clavicorde fällt diese Unbequemlichkeit weg, indem man hierauf alle Arten des forte und piano so deutlich und reine heraus bringen kan, als kaum auf manchem andern Instrumente. Bey starcker oder lärmender Begleitung muß man allezeit die Haupt-Melodie durch einen stärckern Anschlag hervorragen lassen.

 §. 30.  Die verzierten Cadenzen sind gleichsam eine Composition aus dem Stegereif. Sie werden nach dem Inhalte eines Stückes mit einer Freyheit wider den Tackt vorgetragen. Deßwegen ist die angedeutete Geltung der Noten bey diesen Cadenzen in den Probe-Stücken nur ohngefehr. Sie stellt blos einiger massen die Geschwindigkeit und Verschiedenheit dieser Noten vor. Bey zwey- oder dreystimmigen Cadenzen wird allezeit zwischen jeder Proposition ein wenig stille gehalten, ehe die andre Stimme [117] anfängt; Dieses Stillehalten und zugleich das Ende jeder Proposition habe ich durch weisse Noten, ohne mich an die gewöhnliche Schreib-Art der Bindungen zu kehren, und ohne weitre Absicht, in den Probe-Stücken angedeutet. Diese weissen Noten werden so lange ausgehalten, bis sie in derselben Stimme von andern abgelöset werden. Man mercke hier, wenn eine andre Stimme in die Queere kommt, daß man alsdenn die auszuhaltende Note zwar auf einige Zeit aufheben muß; dem ohngeacht aber läßt man sie aufs neue liegen, wenn die in die Queere gekommene Stimme solche das letzte mahl anschläget. Sollte dieser Fall bey zwey beschäftigten Händen vorkommen, so ergreift so gleich die andere Hand diese zuletzt angeschlagene Note bevor ihn die erste Hand verläßt. Hierdurch erhält man das Nachsingen ohne einen neuen Anschlag zu machen. Das bey diesen weissen Noten erforderte Stillehalten geschiehet deßwegen, damit man das Cadenzenmachen zweyer oder dreyer Personen, ohne Abrede zu nehmen, nachahme, indem man dadurch gleichsam vorstellet, als wenn eine Person auf die andere genau Achtung gebe, ob deren Proposition zu Ende sey oder nicht. Ausser dem würden die Cadenzen ihre natürliche Eigenschaft verliehren, und es dürfte scheinen, als ob man, statt eine Cadenz zu machen, ein ausdrücklich nach dem Tackt gesetztes Stück mit Bindungen spielte. Dem ohngeacht fällt dieses Stillehalten weg, so bald die Auflösung der Harmonie, welche bey dem Eintritt einer weissen Note vorgehet, erfordert, daß die gerade über dieser weissen stehende Note zugleich mit ihr angeschlagen werden muß.

 §. 31.  Das Probe-Stücke aus dem F dur ist ein Abriß, wie man heute zu Tage die Allegros mit 2 Reprisen das andere mahl zu verändern pflegt. So löblich diese Erfindung ist, so sehr wird sie gemißbrauchet. Meine Gedancken hiervon sind [118] diese: Man muß nicht alles verändern, weil es sonst ein neu Stück seyn würde. Viele, besonders die affectuösen oder sprechenden Stellen eines Stückes lassen sich nicht wohl verändern. Hieher gehöret auch diejenige Schreib-Art in galanten Stücken, welche so beschaffen ist, daß man sie wegen gewisser neuen Ausdrücke und Wendungen selten das erste mahl vollkommen einsieht. Alle Veränderungen müssen dem Affect des Stückes gemäß seyn. Sie müssen allezeit, wo nicht besser, doch wenigstens eben so gut, als das Original seyn. Simple Gedancken werden zuweilen sehr wohl bunt verändert und umgekehrt. Dieses muß mit keiner geringen Ueberlegung geschehen, man muß hierbey beständig auf die vorhergehenden und folgenden Gedancken sehen; man muß eine Absicht auf das gantze Stück haben, damit die gleiche Vermischung des brillanten und simplen, des feurigen und matten, des traurigen und frölichen, des sangbaren und des dem Instrument eignen beybehalten werde. Bey Clavier-Sachen kan zugleich der Baß in der Veränderung anders seyn, als er war, indessen muß die Harmonie dieselbe bleiben. Ueberhaupt muß man, ohngeacht der vielen Veränderungen, welche gar sehr Mode sind, es allezeit so einrichten, daß die Grundliniamenten des Stückes, welche den Affect desselben zu erkennen geben, dennoch hervor leuchten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Maaße
Neunte Abtheilung. Von den Verzierungen der Fermaten Nach oben Exempel
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