Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen/XI. Hauptstück

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
X. Hauptstück Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen (1752) von Johann Joachim Quantz
XI. Hauptstück
XII. Hauptstück


[100]
Das XI. Hauptstück.
Vom guten Vortrage im Singen und Spielen überhaupt.


1. §.

Der musikalische Vortrag kann mit dem Vortrage eines Redners verglichen werden. Ein Redner und ein Musikus haben sowohl in Ansehung der Ausarbeitung der vorzutragenden Sachen, als des Vortrages selbst, einerley Absicht zum Grunde, nämlich: sich der Herzen zu bemeistern, die Leidenschaften zu erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in diesen, bald in jenen Affect zu versetzen. Es ist vor beyde ein Vortheil, wenn einer von den Pflichten des andern einige Erkenntniß hat.


2. §.

Man weis, was bey einer Rede ein guter Vortrag für Wirkung auf die Gemüther der Zuhörer thut; man weis auch, wie viel ein schlechter [101] Vortrag der schönsten Rede auf dem Papiere schadet; man weis nicht weniger, daß eine Rede, wenn sie von verschiedenen Personen, mit eben denselben Worten gehalten werden sollte, doch immer von dem einen besser oder schlimmer anzuhören seyn würde, als von dem andern. Mit dem Vortrage in der Musik hat es gleiche Bewandtniß: so daß, wenn ein Stück entweder von einem oder dem andern gesungen, oder gespielet wird, es immer eine verschiedene Wirkung hervorbringt.

3. §.

Von einem Redner wird, was den Vortrag anbelanget, erfodert, daß er eine laute, klare und reine Stimme, und eine deutliche und vollkommen reine Aussprache habe: daß er nicht einige Buchstaben mir einander verwechsele, oder gar verschlucke: daß er sich aus eine angenehme Mannigfaltigkeit in der Stimme und Sprache befleißige: daß er die Einförmigkeit in der Rede vermeide; vielmehr den Ton in Sylben und Wörtern bald laut bald leise, bald geschwind bald langsam hören lasse: daß er folglich bey einigen Wörtern die einen Nachdruck erfodern die Stimme erhebe, bey andern hingegen wieder mäßige: daß er jeden Affect mit einer verschiedenen, dem Affecte gemäßen Stimme ausdrücke; und daß er sich überhaupt nach dem Orte, wo er redet, nach den Zuhörern, die er vor sich hat, und nach dem Innhalte der Reden die er vorträgt, richte, und folglich, z. E. unter einer Trauerrede, einer Lobrede, einer scherzhaften Rede, u. d. gl. den gehörigen Unterschied zu machen wisse; daß er endlich eine äusserliche gute Stellung annehme.

4. §.

Ich will mich bemühen zu zeigen, daß alles dieses auch bey dem guten musikalischen Vortrage erfodert werde; wenn ich vorher von der Nothwendigkeit dieses guten Vortrages, und von den Fehlern, so dabey begangen werden, noch etwas werde gesaget haben.

5. §.

Die gute Wirkung einer Musik hängt fast eben so viel von den Ausführern, als von dem Componisten selbst ab. Die beste Composition kann durch einen schlechten Vortrag verstümmelt, eine mittelmäßige Composition aber durch einen guten Vortrag verbessert, und erhoben werden. Man höret öfters ein Stück singen oder spielen, da die Composition nicht zu verachten ist, die Auszierungen des Adagio den Regeln der Harmonie nicht zuwider sind, die Passagien im Allegro auch geschwind genug gemachet werden; es gefällt aber dem ungeachtet den wenigsten. Wenn es [102] aber aber ein anderer auf eben demselben Instrumente, mit eben denselben Manieren, mit nicht größerer Fertigkeit spielete, würde es vielleicht von dem einen besser als von dem andern gefallen. Nichts als die Art des Vortrages kann also hieran Ursache seyn.

6. §.

Einige glauben, wenn sie ein Adagio mit vielen Manieren auszustopfen, und dieselben so zu verziehen wissen, daß oftmals unter zehn Noten kaum eine mit der Grundstimme harmoniret, auch von dem Hauptgesange wenig zu vernehmen ist; so sey dieses gelehrt. Allein sie irren sich sehr, und geben dadurch zu erkennen, daß sie die wahre Empfindung des guten Geschmackes nicht haben. Sie denken eben so wenig auf die Regeln der Setzkunst, welche erfodern, daß jede Dissonanz nicht nur gut vorbereitet werden, sondern auch ihre gehörige Auflösung bekommen, und also dadurch erst ihre Annehmlichkeit erhalten müsse; da sie ausserdem ein übellautender Klang seyn und bleiben würde. Sie wissen endlich nicht, daß es eine größere Kunst sey, mit wenigem viel, als mit vielem wenig zu sagen. Gefällt nun ein dergleichen Adagio nicht, so liegt abermals die Schuld am Vortrage.

7. §.

Die Vernunft lehret, daß wenn man durch die bloße Rede von jemanden etwas verlanget, man sich solcher Ausdrücke bedienen müsse, die der andere versteht. Nun ist die Musik nichts anders als eine künstliche Sprache, wodurch man seine musikalischen Gedanken dem Zuhörer bekannt machen soll. Wollte man also dieses auf eine dunkele oder bizarre Art, die dem Zuhörer unbegreiflich wäre, und keine Empfindung machte, ausrichten: was hülfe alsdenn die Bemühung, die man sich seit langer Zeit gemachet hätte, um für gelehrt angesehen zu werden? Wollte man verlangen, daß die Zuhörer lauter Kenner und Musikgelehrte seyn sollten, so würde die Anzahl der Zuhörer nicht sehr groß seyn: man müßte sie denn unter den Tonkünstlern von Profession, wiewohl nur einzeln aufsuchen. Das schlimmste würde dabey seyn, daß man von diesen den wenigsten Vortheil zu hoffen hätte. Denn sie können allenfalls nichts anders thun, als durch ihren Beyfall die Geschicklichkeit des Ausführers den Liebhabern zu erkennen geben. Wie schwerlich und selten aber geschieht dieses! weil die meisten mit Affecten und absonderlich mit Eifersucht so eingenommen sind, daß sie nicht allemal das Gute von ihres gleichen einsehen, noch es andern gern bekannt machen mögen. Wüßten aber auch alle Liebhaber so viel [103] als ein Musikus wissen soll; so fiele der Vortheil gleichfalls weg: weil sie alsdenn wenig oder gar keine Tonkünstler von Profession mehr nöthig hätten. Wie nöthig ist also nicht daß ein Musikus jedes Stück deutlich und mit solchem Ausdruck vorzutragen suche, daß es sowohl den Gelehrten als Ungelehrten in der Musik verständlich werden, und ihnen folglich gefallen könne.

8. §.

Der gute Vortrag ist nicht allein denen, die sich nur mit Haupt- oder concertirenden Stimmen hören lassen, sondern auch denenjenigen, die nur Ripienisten abgeben, und sich begnügen jene zu begleiten, unentbehrlich; und jeder hat in seiner Art, ausser den allgemeinen, noch besondere Regeln zu beobachten nöthig. Viele glauben, wenn sie vielleicht im Stande sind, ein studirtes Solo zu spielen, oder eine ihnen vorgelegte Ripienstimme, ohne Hauptfehler vom Blatte weg zu treffen, man könne von ihnen weiter nichts mehr verlangen. Allein ich glaube daß ein Solo willkührlich zu spielen leichter sey, als eine Ripienstimme auszuführen, wo man weniger Freyheit hat, und sich mit Vielen vereinigen muß, um das Stück nach dem Sinne des Componisten auszudrücken. Hat nun einer keine richtigen Grundsätze im Vortrage; so wird er auch der Sache niemals ein Gnüge leisten können. Es wäre deswegen nöthig, daß ein jeder geschikter Musikmeister, besonders ein Violinist, dahin sähe, daß er seine Scholaren nicht eher zum Solospielen anführete, bis sie schon gute Ripienisten wären. Die hierzu gehörige Wissenschaft bahnet ohne dem den Weg zum Solospielen: und würde manch abgespieltes Solo den Zuhörern deutlicher und annehmlicher in die Sinne fallen, wenn der Ausführer desselben es so gemachet hätte, wie man in der Malerkunst zu thun pfleget, da man erstlich die richtige Zeichnung des Gemäldes machen lernen muß, ehe man an die Auszierungen gedenket. Allein die wenigsten Anfänger können die Zeit erwarten. Um bald unter die Anzahl der Virtuosen gerechnet zu werden, fangen sie es öfters verkehrt, nämlich beym Solospielen an; und martern sich mit vielen ausgekünstelten Zierrathen und Schwierigkeiten, denen sie doch nicht gewachsen sind; und dadurch sie doch vielmehr den Vortrag verwirrt, als deutlich machen lernen. Oefters sind auch wohl die Meister selbst Schuld daran; wenn sie zeigen wollen, daß sie im Stande sind, den Scholaren in kurzer Zeit einige Solo beyzubringen: welches ihnen aber, im Fall diese als Ripienisten sollen gebrauchet werden, nicht allezeit viel Ehre machet. Den guten Vortrag [104] den die Ripienisten insbesondere zu beobachten haben, findet man im XVII. Hauptstücke dieser Anweisung weitläuftig erkläret.

9. §.

Der Vortrag ist fast bey keinem Menschen wie bey dem andern, sondern bey den meisten unterschieden. Nicht allezeit die Unterweisung in der Musik, sondern vielmehr auch zugleich die Gemüthsbeschaffenheit eines jeden, wodurch sich immer einer von dem andern unterscheidet, sind die Ursachen davon. Ich setze den Fall, es hätten ihrer viele bey einem Meister, zu gleicher Zeit, und durch einerley Grundsätze die Musik erlernet; sie spieleten auch in den ersten drey oder vier Jahren in einerley Art. Man wird dennoch nachher erfahren, daß wenn sie etliche Jahre ihren Meister nicht mehr gehöret haben, ein jeder einen besondern Vortrag, seinem eigenen Naturelle gemäß, annehmen werde; so fern sie nicht pure Copeyen ihres Meisters bleiben wollen. Einer wird immer auf eine bessere Art des Vortrages verfallen als der andere.

10. §.

Wir wollen nunmehr die vornehmsten Eigenschaften des guten Vortrages überhaupt untersuchen. Ein guter Vortrag muß zum ersten: rein und deutlich seyn. Man muß nicht nur jede Note hören lassen, sondern auch jede Note in ihrer reinen Intonation angeben; damit sie dem Zuhörer alle verständlich werden. Keine einzige darf man auslassen. Man muß suchen den Klang so schön als möglich herauszubringen. Vor dem Falschgreifen muß man sich mit besonderm Fleiße hüten. Was hierzu der Ansatz und der Zungenstoß auf der Flöte beytragen kann, ist oben gelehret worden. Man muß sich hüten, die Noten zu schleifen, welche gestoßen werden sollen; und die zu stoßen, welche man schleifen soll. Es darf nicht scheinen, als wenn die Noten zusammen klebeten. Den Zungenstoß auf Blasinstrumenten, und den Bogenstrich auf Bogeninstrumenten, muß man jederzeit, der Absicht, und der vermittelst der Bogen und Striche geschehenen Anweisung des Komponisten gemäß, brauchen: denn hierdurch bekommen die Noten ihre Lebhaftigkeit. Sie unterscheiden sich dadurch von der Art der Sackpfeife, welche ohne Zungenstoß gespielet wird. Die Finger, sie mögen sich auch so ordentlich und munter bewegen, als sie immer wollen, können die musikalische Aussprache für sich allein nicht ausdrücken, wo nicht die Zunge oder der Bogen, durch gehörige, und zu der vorzutragenden Sache geschikte Bewegungen, das ihrige, und zwar das meiste darzu beytragen. Gedanken welche an einander [105] hangen sollen, muß man nicht zertheilen: so wie man hingegen diejenigen zertheilen muß, wo sich ein musikalischer Sinn endiget, und ein neuer Gedanke, ohne Einschnitt oder Pause anfängt; zumal wenn die Endigungsnote vom vorhergehenden, und die Anfangsnote vom folgenden Gedanken, auf einerley Tone stehen.

11. §.

Ein guter Vortrag muß ferner: rund und vollständig seyn. Jede Note muß in ihrer wahren Geltung, und in ihrem rechten Zeitmaaße ausgedrücket werden. Würde dieses allezeit recht beobachtet, so müßten auch die Noten so klingen wie sie der Componist gedacht hat: weil dieser nichts ohne Regeln setzen darf. Nicht alle Ausführer kehren sich hieran. Sie geben öfters, aus Unwissenheit, oder aus einem verdorbenen Geschmacke, der folgenden Note etwas von der Zeit, so der vorhergehenden gehöret. Die ausgehaltenen und schmeichelnden Noten müssen mit einander verbunden; die lustigen und hüpfenden aber abgesetzet, und von einander getrennet werden. Die Triller und die kleinen Manieren müssen alle rein und lebhaft geendiget werden.

12. §.

Ich muß hierbey eine nothwendige Anmerkung machen, welche die Zeit, wie lange jede Note gehalten werden muß, betrifft. Man muß unter den Hauptnoten, welche man auch: anschlagende, oder, Nach Art der Italiäner, gute Noten zu nennen pfleget, und unter den durchgehenden, welche bey einigen Ausländern schlimme heißen, einen Unterschied im Vortrage zu machen wissen. Die Hauptnoten müssen allezeit, wo es sich thun läßt, mehr erhoben werden, als die durchgehenden. Dieser Regel zu Folge müssen die geschwindesten Noten, in einem jeden Stücke von mäßigem Tempo, oder auch im Adagio, ungeachtet sie dem Gesichte nach einerley Geltung haben, dennoch ein wenig ungleich gespielet werden; so daß man die anschlagenden Noten einer jeden Figur, nämlich die erste, dritte, fünfte, und siebente, etwas länger anhält, als die durchgehenden, nämlich, die zweyte, vierte, sechste, und achte: doch muß dieses Anhalten nicht soviel ausmachen, als wenn Puncte dabey stünden. Unter diesen geschwindesten Noten verstehe ich: die Viertheile im Dreyzweytheiltacte; die Achttheile im Dreyviertheil- und die Sechzehntheile im Dreyachttheiltacte; die Achttheile im Allabreve; die Sechzehntheile oder Zwey und dreyßigtheile im Zweyviertheil- oder im gemeinen geraden Tacte: doch nur so lange, als keine Figuren von noch [106] geschwindern oder noch einmal so kurzen Noten, in jeder Tactart und untermischet sind; denn alsdenn müßten diese letztern auf die oben beschriebene Art vorgetragen werden. Z. E. Wollte man Tab. IX. Fig. 1. die acht Sechzehntheile unter den Buchstaben (k) (m) (n) langsam in einerley Geltung spielen; so würden sie nicht so gefällig klingen, als wenn man von vieren die erste und dritte etwas länger, und stärker im Tone, als die zweyte und vierte, hören läßt. Von dieser Regel aber werden ausgenommen: erstlich die geschwinden Passagien in einem sehr geschwinden Zeitmaaße, bey denen die Zeit nicht erlaubet sie ungleich vorzutragen, und wo man also die Länge und Stärke nur bey der ersten von vieren anbringen muß. Ferner werden ausgenommen: alle geschwinden Passagien welche die Singstimme zu machen hat, wenn sie anders nicht geschleifet werden sollen: denn weil jede Note von dieser Art der Singpassagien, durch einen gelinden Stoß der Luft aus der Brust, deutlich gemachet und markiret werden muß; so findet die Ungleichheit dabey keine Statt. Weiter werden ausgenommen: die Noten über welchen Striche oder Puncte stehen, oder von welchen etliche nach einander auf einem Tone vorkommen; ferner wenn über mehr als zwo Noten, nämlich über vieren, sechsen, oder achten ein Bogen steht; und endlich die Achttheile in Giquen. Alle diese Noten müssen egal, das ist, eine so lang, als die andere, vorgetragen werden.

13. §.

Der Vortrag muß auch: leicht und fließend seyn. Wären auch die auszuführenden Noten noch so schwer: so darf man doch dem Ausführer diese Schwierigkeit nicht ansehen. Alles rauhe, gezwungene Wesen im Singen und Spielen muß mit großer Sorgfalt vermieden werden. Vor allen Grimassen muß man sich hüten, und sich so viel als möglich ist in einer beständigen Gelassenheit zu erhalten suchen.

14. §.

Ein guter Vortrag muß nicht weniger: mannigfaltig seyn. Licht und Schatten muß dabey beständig unterhalten werden. Wer die Töne immer in einerley Stärke oder Schwäche vorbringt, und, wie man saget, immer in einerley Farbe spielet; wer den Ton nicht zu rechter Zeit zu erheben oder zu mäßigen weis, der wird niemanden besonders rühren. Es muß also eine stetige Abwechselung des Forte und Piano dabey beobachtet werden. Wie dieses bey jeder Note ins Werk gerichtet werden müsse, will ich, weil es eine Sache von großer Nothwendigkeit ist, zu Ende des XIV. Hauptstücks, durch Exempel zeigen.

[107]
15. §.

Der gute Vortrag muß endlich: ausdrückend, und jeder vorkommenden Leidenschaft gemäß seyn. Im Allegro, und allen dahin gehörigen muntern Stücken muß Lebhaftigkeit; im Adagio, und denen ihm gleichenden Stücken aber, Zärtlichkeit, und ein angenehmes Ziehen oder Tragen der Stimme herrschen. Der Ausführer eines Stückes muß sich selbst in die Haupt- und Nebenleidenschaften, die er ausdrücken soll, zu versetzen suchen. Und weil in den meisten Stücken immer eine Leidenschaft mit der andern abwechselt; so muß auch der Ausführer jeden Gedanken zu beurtheilen wissen, was für eine Leidenschaft er in sich enthalte, und seinen Vortrag immer derselben gleichförmig machen. Auf diese Art nur wird er den Absichten des Componisten, und den Vorstellungen so sich dieser bey Verfertigung des Stückes gemacht hat, eine Gnüge leisten. Es giebt selbst verschiedene Grade der Lebhaftigkeit oder der Traurigkeit. Z. E. Wo ein wütender Affect herrschet, da muß der Vortrag weit mehr Feuer haben, als bey scherzenden Stücken, ob er gleich bey beyden lebhaft seyn muß: und so auch bey dem Gegentheile. Man muß sich auch mit dem Zusatze der Auszierungen, mit denen man den vorgeschriebenen Gesang, oder eine simple Melodie, zu bereichern, und noch mehr zu erheben suchet, darnach richten. Diese Auszierungen, sie mögen nothwendig oder willkührlich seyn, müssen niemals dem in der Hauptmelodie herrschenden Affecte widersprechen; und folglich muß das Unterhaltene und Gezogene, mit dem Tändelnden, Gefälligen, Halblustigen und Lebhaften, das Freche mit dem Schmeichelnden, u. s. w. nicht verwirret werden. Die Vorschläge machen die Melodie an einander hangend, und vermehren die Harmonie; die Triller und übrigen kleinen Auszierungen, als: halbe Triller, Mordanten, Doppelschläge und battemens, muntern auf. Das abwechselnde Piano und Forte aber, erhebt theils einige Noten, theils erreget es Zärtlichkeit. Schmeichelnde Gänge im Adagio dürfen im Spielen mit dem Zungenstoße und Bogenstriche nicht zu hart; und hingegen im Allegro, lustige und erhabene Gedanken, nicht schleppend, schleifend, oder zu weich angestoßen werden.

16. §.

Ich will einige Kennzeichen angeben, aus denen zusammen genommen, man, wo nicht allezeit, doch meistentheils wird abnehmen können, was für ein Affect herrsche, und wie folglich der Vortrag beschaffen seyn, ob er schmeichelnd, traurig, zärtlich, lustig, frech, ernsthaft, u. s. w. [108] seyn müsse. Man kann dieses erkennen 1) aus den Tonarten, ob solche hart oder weich sind. Die harte Tonart wird gemeiniglich zu Ausdrückung des Lustigen, Frechen, Ernsthaften, und Erhabenen: die weiche aber zur Ausdrückung des Schmeichelnden, Traurigen, und Zärtlichen gebrauchet; s. den 6. §. des XIV. Hauptstücks. Doch leidet diese Regel ihre Ausnahmen: und man muß deswegen die folgenden Kennzeichen mit zu Hülfe nehmen. Man kann 2) die Leidenschaft erkennen: aus den vorkommenden Intervallen, ob solche nahe oder entfernet liegen, und ob die Noten geschleifet oder gestoßen werden sollen. Durch die geschleifeten und nahe an einander liegenden Intervalle wird das Schmeichelnde, Traurige, und Zärtliche; durch die kurz gestoßenen, oder in entferneten Sprüngen bestehenden Noten, ingleichen durch solche Figuren, da die Puncte allezeit hinter der zweyten Noten stehen, aber, wird das Lustige und Freche ausgedrücket. Punctirte und anhaltende Noten drücken das Ernsthafte und Pathetische; die Untermischung langer Noten, als halber und ganzer Tacte, unter die geschwinden, aber, das Prächtige und Erhabene aus. 3) Kann man die Leidenschaften abnehmen: aus den Dissonanzen. Diese thun nicht alle einerley, sondern immer eine vor der andern verschiedene Wirkungen. Ich habe dieses im VI. Abschnitte des XVII. Hauptstücks weitläuftig erkläret, und mit einem Exempel erläutert. Weil aber diese Erkenntniß nicht den Accompagnisten allein, sondern auch einem jeden Ausführer zu wissen unentbehrlich ist, so will ich mich hier aus den 13. und folgende bis zum 17. §. des gedachten Abschnittes beziehen. Die 4) Anzeige des herrschenden Hauptaffects ist endlich das zu Anfange eines jeden Stückes befindliche Wort, als: Allegro, Allegro non tanto, – assai, – di molto, – moderato, Presto, Allegretto, Andante, Andantino, Arioso, Cantabile, Spiritoso, Affettuoso, Grave, Adagio, Adagio assai, Lento, Mesto, u. a. m. Alle diese Wörter, wenn sie mit gutem Bedachte vorgesetzet sind, erfodern jedes einen besondern Vortrag in der Ausführung: zugeschweigen, daß, wie ich schon gesaget habe, jedes Stück von oben bemeldeten Charakteren, unterschiedene Vermischungen von pathetischen, schmeichelnden, lustigen, prächtigen, oder scherzhaften Gedanken in sich haben kann, und man sich also, so zu sagen, bey jedem Tacte in einen andern Affect setzen muß, um sich bald traurig, bald lustig, bald ernsthaft, u. s. w. stellen zu können: welche Verstellung bey der Musik sehr nöthig ist. Wer diese Kunst recht ergründen kann, dem wird es nicht leicht an dem Beyfalle der Zuhörer [109] fehlen, und sein Vortrag wird also allezeit rührend seyn. Man wolle aber nicht glauben, daß diese feine Unterscheidung in kurzer Zeit könne erlernet werden. Von jungen Leuten, welche gemeiniglich hierzu zu flüchtig und ungeduldig sind, kann man sie fast gar nicht verlangen. Sie kömmt aber nur dem Wachsthume der Empfindung und der Beurtheilungskraft.

17. §.

Es muß sich ein jeder hierbey auch nach seiner angebohrnen Gemüthsbeschaffenheit richten, und dieselbe gehörig zu regieren wissen. Ein flüchtiger und hitziger Mensch, der hauptsächlich zum Prächtigen, Ernsthaften, und zu übereilender Geschwindigkeit ausgeleget ist, muß beym Adagio suchen, sein Feuer so viel als möglich ist zu mäßigen. Ein trauriger und niedergeschlagener Mensch hingegen thut wohl, wenn er, um ein Allegro lebhaft zu spielen, etwas von jenes seinem überflüßigen Feuer anzunehmen suchet. Und wenn ein aufgeräumter oder sanguinischer Mensch, eine vernünftige Vermischung der Gemüthsbeschaffenheiten der beyden vorigen bey sich zu machen weis, und sich nicht durch die ihm angebohrne Selbstliebe und Gemächlichkeit, den Kopf ein wenig anzustrengen, verhindern läßt: so wird er es im guten Vortrage, und in der Musik überhaupt, am weitesten bringen. Bey wem sich aber von der Geburth an eine so glückliche Mischung des Geblütes befindet, die von den Eigenschaften der drey vorigen, von jeder etwas an sich hat, der hat alle nur zu wünschenden Vortheile zur Musik: denn das Eigenthümliche ist allezeit besser, und von längerer Dauer, als das Entlehnte.

18. §.

Ich habe oben gesaget, daß man durch den Zusatz der Manieren die Melodie bereichern, und mehr erheben müsse. Man hüte sich aber, daß man den Gesang dadurch nicht überschütte, oder unterdrücke. Das allzu bunte Spielen kann eben sowohl als das allzu einfältige, dem Gehöre endlich einen Ekel erwecken. Man muß deswegen nicht nur mit den willkührlichen Auszierungen, sondern auch mit den wesentlichen Manieren, nicht zu verschwenderisch, sondern sparsam umgehen. Absonderlich ist dieses in sehr geschwinden Passagien, wo die Zeit ohnedem nicht viel Zusatz erlaubet, zu beobachten: damit dieselben nicht undeutlich und widerwärtig werden. Einige Sänger, denen der Triller nicht schwer zu machen wird, sollte er auch nicht allemal der beste seyn, haben diesen Fehler des allzuhäufigen Trillerns stark an sich.

[110]
19. §.

Ein jeder Instrumentist muß sich bemühen, das Cantable so vorzutragen, wie es ein guter Sänger vorträgt. Der Sänger hingegen muß im Lebhaften, das Feuer guter Instrumentisten, so viel die Singstimme dessen fähig ist, zu erreichen suchen.

20. §.

Dieses sind also die allgemeinen Regeln des guten Vortrages im Singen und Spielen überhaupt. Ich will nun dieselben auf die Hauptarten der Stücke besonders anwenden. Hieraus werden die folgenden drey Hauptstücke, vom Allegro, von den willkührlichen Veränderungen, und vom Adagio, bestehen. Auch das XVII. Hauptstück von den Pflichten der Accompagnisten, wird großen Theils hierher gehören. Ich will alles mit Exempeln erläutern, und dieselben, so viel als möglich seyn wird, erklären.

21. §.

Der schlechte Vortrag ist das Gegentheil von dem, was zum guten Vortrage erfodert wird. Ich will seine vornehmsten Kennzeichen, damit man sie desto leichter mit einander übersehen, und folglich desto sorgfältiger vermeiden könne, hier in der Kürze zusammen fassen. Der Vortrag also ist schlecht: wenn die Intonation unrein ist, und der Ton übertrieben wird; wenn man die Noten undeutlich, dunkel, unverständlich, nicht articuliret, sondern matt, faul, schleppend, schläfrig, grob, und trocken vorträgt; wenn man alle Noten ohne Unterschied schleifet oder stößt; wenn das Zeitmaaß nicht beobachtet wird, und die Noten ihre wahre Geltung nicht bekommen; wenn die Manieren im Adagio zu sehr verzogen werden, und nicht mit der Harmonie übereintreffen; wenn man die Manieren schlecht endiget, oder übereilet; die Dissonanzen aber weder gehörig vorbereitet, noch auflöset; wenn man die Passagien nicht rund und deutlich, sondern schwer, ängstlich, schleppend, oder übereilend und stolpernd machet, und mit allerhand Grimassen begleitet; wenn man alles kaltsinnig, in einerley Farbe, ohne Abwechselung des Piano und Forte singt oder spielet; wenn man den auszudrückenden Leidenschaften zuwider handelt; und überhaupt wenn man alles ohne Empfindung, ohne Affect, und ohne selbst gerühret zu werden, vorträgt; so daß es das Ansehen hat, als wenn man in Commission für einen andern singen oder spielen müßte: wodurch aber der Zuhörer eher in eine Schläfrigkeit versetzet, als auf eine angenehme [111] Art unterhalten und belustiget wird; mithin froh seyn muß, wenn das Stück zu Ende ist.

X. Hauptstück Nach oben XII. Hauptstück
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.