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Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen/XV. Hauptstück

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XIV. Hauptstück Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen (1752) von Johann Joachim Quantz
XV. Hauptstück
XVI. Hauptstück


[151]

Das XV. Hauptstück.
Von den Cadenzen.


1. §.

Ich verstehe unter dem Worte Cadenz hier nicht die Schlüsse oder Absätze in der Melodie; noch weniger den Triller, welchen einige Franzosen cadence nennen. Ich handele hier von derjenigen willkührlichen Auszierung, welche von einer concertirenden Stimme, beym Schlusse des Stücks, über der vorletzten Note der Grundstimme, nämlich über der Quinte der Tonart woraus das Stück geht, nach dem freyen Sinne und Gefallen des Ausführers, gemachet wird.


2. §.

Es ist vielleicht noch kein halbes Jahrhundert her, daß diese Cadenzen bey den Italiänern aufgekommen, nachher aber von den Deutschen, und von andern, welche sich beflissen haben im italiänischen Geschmacke zu singen und zu spielen, nachgemachet worden sind. Die Franzosen haben sich ihrer noch immer enthalten. Die Cadenzen müssen zu der Zeit, da Lülly Welschland verlassen hat, vermuthlich noch nicht Mode gewesen [WS 1] seyn: denn wer weis ob er diesen Zierrath sonst nicht auch bey den Franzosen eingeführet hätte. Es ist vielmehr zu glauben, daß die Cadenzen erst nach der Zeit, da Corelli seine in Kupfer gestochenen 12 Solo vor die [152] Violine herausgegeben hat, in den Brauch gekommen sind.* Die sicherste Nachricht die man vom Ursprunge der Cadenzen geben könnte, ist diese, daß man einige Jahre vor dem Ende des vorigen Jahrhunderts, und die ersten zehn Jahre des itzigen, den Schluß einer concertirenden Stimme, durch eine kleine Passagie, über dem fortgehenden Basse, und durch einen daran gehengeten guten Triller gemacht hat: daß aber ohngefähr zwischen 1710. und 1716. die itzo üblichen Cadenzen, bey denen sich der Baß aufhalten muß, Mode geworden sind. Die Fermaten, oder sogenannten Aufhaltungen ad Libitum in der Mitte eines Stücks aber, mögen wohl etwas ältern Ursprunges seyn.

* Bald nach der ersten Ausgabe erschienen diese Sonaten, unter des Urhebers Namen von neuem in Kupfer, und bey den zwölf Adagio der ersten sechs Sonaten befanden sich die Veränderungen dabey gestochen. Es war aber keine einzige[WS 2] Cadenz ad libitum dabey. Kurze Zeit darauf setzete der ehemals in Oesterreichischen Diensten gestandene, berühmte Violinist, Nicola Mattei noch andere Manieren zu eben diesen zwölf Adagio. Dieser hat zwar etwas mehr gethan, als Corelli selbst, indem er dieselben mit einer Art von kurzer Auszierung beschlossen. Sie sind aber noch keine Cadenzen ad libitum, wie man itziger Zeit machet, sondern sie gehen nach der Strenge des Tactes, ohne Aufhalten des Basses fort. Beyde Exemplare habe ich schon seit dreyßig und mehr Jahren in Händen.

3. §.

Ob die Cadenzen, mit ihrer Geburth, zugleich auch Regeln, worinn sie eigentlich bestehen sollen, mitgebracht haben; oder ob sie nur, von einigen geschikten Leuten, willkührlich und ohne Regeln erfunden worden sind, ist mir unbekannt. Doch glaube ich das letztere. Denn schon vor etlichen und zwanzig Jahren eiferten die Componisten in Italien, wider den Misbrauch, der in diesem Puncte, in Opern, so häufig von den mittelmäßigen Sängern begangen wurde. Die Componisten beschlossen deswegen, um den ungeschickten Sängern die Gelegenheit zum Cadenziren zu benehmen, die meisten Arien mit Baßmäßigen Gängen, im Unison.

4. §.

Der Misbrauch der Cadenzen besteht nicht allein darinne, wenn sie, wie gemeiniglich geschieht, an sich selbst nicht viel taugen: sondern auch wenn sie bey der Instrumentalmusik, bey solchen Stücken angebracht werden, wohin sich gar keine schicken; z. E. bey lustigen und geschwinden Stücken die im 2/4, 3/4, 3/8, 12/8 und 6/8 Tacte gesetzet sind. Sie finden [153] nur nur in pathetischen und langsamen, oder in ernsthaften geschwinden Stücken statt.

5. §.

Die Absicht der Cadenz ist keine andere, als die Zuhörer noch einmal bey dem Ende unvermuthet zu überraschen, und noch einen besonderen Eindruck in ihrem Gemüthe zurück zu lassen. Deswegen würde, dieser Absicht gemäß, in einem Stücke eine einzige Cadenz genug seyn. Es ist folglich wohl als ein Misbrauch anzusehen, wenn ein Sänger im ersten Theile der Arie zwo, und im zweyten Theile auch noch eine Cadenz machet: denn auf diese Art kommen, wegen des Da Capo, fünf Cadenzen in eine Arie. Ein solcher Ueberfluß kann nicht nur den Zuhörer leicht ermüden; zumal wenn die Cadenzen, wie sehr oft geschieht, einander immer ähnlich sehen: sondern er giebt auch einem an Erfindung nicht gar zu reichen Sänger Gelegenheit, sich desto eher zu erschöpfen. Machet aber der Sänger nur beym Hauptschlusse eine Cadenz; so bleibt er im Vortheile, und der Zuhörer bey Appetite.

6. §.

Es ist zwar nicht zu läugnen, daß die Cadenzen, wenn sie so gerathen, wie es die Sache erfodert, und am rechten Orte angebracht werden, zu einer Zierde dienen. Man wird aber auch einräumen, daß sie, da sie selten von rechter Art sind, gleichsam, und zumal beym Singen, nur zu einem nothwendigen Uebel gediehen sind. Wenn keine gemachet werden, so hält man es für einen großen Mangel. Mancher aber würde sein Stück mit mehr Ehre beschließen, wenn er gar keine Cadenz machete. Indessen will oder muß ein jeder, der sich mit Singen oder Solospielen abgiebt, Cadenzen machen. Weil aber nicht allen die Vortheile und die rechte Art derselben bekannt sind: so fällt diese Mode dem größten Theile zur Last.

7. §.

Regeln von Cadenzen sind, wie ich schon gesaget habe, noch niemals gegeben worden. Es würde auch schwer fallen, Gedanken, die willkührlich sind, die keine förmliche Melodie ausmachen sollen, zu welchen keine Grundstimme statt findet, deren Umfang, in Ansehung der Tonarten welche man berühren darf, sehr klein ist, und die überhaupt nur als ein Ohngefähr klingen sollen, in Regeln einzuschließen. Doch giebt es einige aus der Setzkunst fließende Vortheile, deren man sich bedienen kann, wenn man nicht, wie Viele thun, die Cadenzen nur nach dem Gehöre, [154] wir die Vögel ihren Gesang lernen, ohne zu wissen, worinn sie bestehen, und wohin sie sich schicken, auswendig lernen, und bisweilen in einem traurigen Stücke etwan eine lustige, oder in einem lustigen wieder eine traurige Cadenz hören lassen will.

8. §.

Die Cadenzen müssen aus dem Hauptaffecte des Stückes fließen, und eine kurze Wiederholung oder Nachahmung der gefälligsten Clauseln, die in dem Stücke enthalten sind, in sich fassen. Zuweilen trifft sichs, daß man wegen Zerstreuung der Gedanken nicht sogleich etwas neues zu erfinden weis. Hier ist nun kein besser Mittel, als daß man sich, aus dem Vorhergehenden, eine von den gefälligsten Clauseln erwähle, und die Cadenz daraus bilde. Hierdurch kann man nicht nur zu allen Zeiten den Mangel der Erfindung ersetzen; sondern man wird auch jederzeit der herrschenden Leidenschaft des Stückes eine Gnüge thun. Dieses will ich einem jeden, als einen nicht gar zu bekannten Vortheil, empfohlen haben.

9. §.

Die Cadenzen sind entweder ein- oder zweystimmig. Die einstimmigen vornemlich sind, wie oben schon gesaget worden, willkührlich. Sie müssen kurz und neu seyn, und den Zuhörer überraschen, wie ein bon mot. Folglich müssen sie so klingen, als wenn sie in dem Augenblicke, da man sie machet, erst gebohren würden. Man gehe demnach nicht zu verschwenderisch, sondern als ein guter Wirth damit um; besonders wenn man öfters einerley Zuhörer vor sich hat.

10. §.

Weil der Umfang sehr klein, und leicht zu erschöpfen ist: so fällt es schwer die Aehnlichkeit zu vermeiden. Man darf deswegen in einer Cadenz nicht zu vielerley Gedanken anbringen.

11. §.

Weder die Figuren, noch die simpeln Intervalle, womit man die Cadenz anfangt und endiget, dürfen in der Transposition mehr als zweymal wiederholet werden; sonst werden sie zum Ekel. Ich will hierüber zwo Cadenzen, in einerley Art, zum Muster geben; s. Tab. XX. Fig. 1. und Fig. 2. In der ersten finden sich zwar zweyerley Figuren. Weil aber eine jede Figur viermal gehöret wird: so empfindet das Gehör einen Verdruß darüber. In der zweyten hingegen werden die Figuren nur einmal wiederholet, und wieder durch neue Figuren unterbrochen. Sie ist [155] deswegen der erstern vorzuziehen. Denn ie mehr man das Ohr durch neue Erfindungen betriegen kann; ie angenehmer fällt es demselben. Es müssen folglich die Figuren immer in verschiedener Art mit einander abwechseln. In der erstern Cadenz findet sich über dem noch der Fehler, daß sie vom Anfange bis zum Ende immer aus einerley Tactart, und Eintheilung der Noten besteht, welches gleichfalls wider die Eigenschaft der Cadenzen läuft. Will man aus der zweyten Cadenz simple Intervalle machen; so darf man nur von jeder Figur die erste Note nehmen, s. Fig. 3. da sich denn diese zum Adagio, jene aber zum Allegro schicket.

12. §.

Da man in der Transposition die Figuren oder Clauseln nicht zu oft wiederholen darf: so darf man solches noch weniger auf einerley Tone thun. Man muß bey den Cadenzen überhaupt sich hüten, die Töne womit sich die Clauseln anfangen, als welche sich dem Gehöre mehr, als die andern eindrücken, nicht zu oft hören zu lassen: besonders am Ende, wo man sich in der Sexte oder Quarte vom Grundtone an gerechnet, immer ein wenig aufzuhalten pfleget. Denn dieses würde dem Ohre eben so widerwärtig vorkommen, als wenn man in einer Rede verschiedene Perioden nach einander immer mit demselben Worte anfangen oder endigen wollte.

13. §.

Ob die Cadenzen gleich willkührlich sind: so müssen doch die Intervalle darinne ihre richtige Auflösung bekommen: besonders wenn man durch Dissonanzen in fremde Tonarten ausweicht; welches durch die Sprünge in die falsche Quinte, oder in die übermäßige Quarte geschehen kann, s. Tab. XX. Fig. 4.

14. §.

In den Tonarten muß man nicht gar zu weit ausschweifen, und keine Töne berühren, die mit dem Haupttone gar keine Verwandtschaft haben. Eine kurze Cadenz muß gar nicht aus ihrer Tonart weichen. Eine etwas längere kann am natürlichsten in die Quarte; und eine noch längere in die Quarte und Quinte ausweichen. In Durtönen geschieht die Ausweichung in die Quarte durch die kleine Septime, s. Fig. 5. das Dis unter dem Buchstaben (a); die Ausweichung in die Quinte geschieht durch die übermäßige Quarte, s. das H unter dem Buchstaben (b); und die Rückkehr in den Hauptton durch die ordentliche Quarte, s. das B unter dem Buchstaben (c). In Molltönen geschieht die Ausweichung [156] in die Quarte vermittelst der großen Terze, s. Fig. 6. das H unter dem Buchstaben (a); die Ausweichung in die Quinte, und die Rückkehr in den Hauptton aber, geschehen eben so wie bey der größern Tonart, s. Cis und C unter den Buchstaben (b) und (c). Aus der größern Tonart kann man wohl in die kleinere gehen; doch muß es nur in der Kürze, und mit vieler Behutsamkeit geschehen: damit man mit guter Art wieder in die Hauptnote kommen möge. In den kleinern Tonarten kann man durch halbe Töne, stufenweise, auf oder niederwärts gehen: doch müssen deren über drey bis viere nicht nach einander folgen, sonst können sie, wie alle andere sich ähnliche Clauseln, zum Ekel werden.

15. §

Wie eine lustige Cadenz aus weitläuftigen Sprüngen, lustigen Clauseln, untermischten Triolen und Trillern u. d. gl. gebildet wird, s. Tab. XX. Fig. 7; so besteht hingegen eine traurige fast aus lauter nahe an einander liegenden, mit Dissonanzen vermischten Intervallen, s. Fig. 8. Die erste davon schicket sich zu einem muntern, die andere hingegen zu einem sehr traurigen Stücke. Man muß sich hierbey wohl in Acht nehmen; damit man nicht in ungereimte Mengereyen und Verwechselungen des Lustigen und Traurigen verfalle.

16. §.

Eine ordentliche Tactart wird selten beobachtet; ja sie darf nicht einmal beobachtet werden. Denn die Cadenzen sollen nicht aus einer an einander hängenden Melodie, sondern vielmehr aus abgebrochenen Gedanken bestehen; wenn sie nur dem vorhergehenden Ausdrucke der Leidenschaften gemäß sind.

17. §

Die Cadenzen für eine Singstimme, oder ein Blasinstrument müssen so beschaffen seyn, daß sie in einem Athem gemachet werden können. Ein Seyteninstrumentist kann sie so lang machen, als ihm beliebet; sofern er anders reich an Erfindung ist. Doch erlanget er mehr Vortheil durch eine billige Kürze, als durch eine verdrüßliche Lange.

18. §.

Ich gebe die hier befindlichen Exempel nicht für vollkommene und ausgearbeitete Cadenzen aus; sondern nur für Muster, wodurch man einiger maaßen die Ausweichungen der Tonarten, die Zurückkehrungen in den Hauptton, die Vermischungen der Figuren, und überhaupt die Eigenschaften der Cadenz begreifen lerne. Vielleicht möchte mancher [157] wünschen, daß ich eine Anzahl von ausgearbeiteten Cadenzen beygefüget hätte. Allein weil man nicht vermögend ist, alle Cadenzen so zu schreiben, wie sie gespielet werden müssen: so würden auch alle Exempel von ausgearbeiteten Cadenzen nicht hinreichend seyn, einen vollständigen Begriff davon zu geben. Man muß also, die Art gute Cadenzen zu machen, vielen geschikten Leuten abzuhören suchen. Hat man nun zuvor einige Erkenntniß von der Cadenzen Eigenschaften, so wie ich sie hier mitzutheilen mich bemühe; so kann man das, was man von andern höret, desto besser prüfen: um das Gute zum eigenen Vortheile anzuwenden, das Böse aber zu vermeiden. Oefters werden, auch von sehr geschikten Tonkünstlern, in Ansehung der Cadenzen, Schwachheiten begangen; entweder aus übel aufgeräumter Gemüthsbeschaffenheit, oder aus allzuvieler Lebhaftigkeit, oder aus Kaltsinnigkeit und Nachläßigkeit, oder aus Trockenheit der Erfindung, oder aus Geringschätzung der Zuhörer, oder aus allzuvieler Künsteley, oder noch aus andern Ursachen, die man nicht alle bestimmen kann. Man muß sich demnach nicht durch das Vorurtheil verblenden lassen, als ob ein guter Musikus nicht auch dann und wann eine schlechte, ein mittelmäßiger hingegen eine gute Cadenz hervorbringen könnte. Die Cadenzen erfodern, wegen ihrer geschwinden Erfindung, mehr Fertigkeit des Witzes, als Gelehrsamkeit. Ihre größte Schönheit besteht darinn, daß sie als etwas unerwartetes den Zuhörer in eine neue und rührende Verwunderung setzen, und die gesuchte Erregung der Leidenschaften gleichsam aufs höchste treiben sollen. Man darf aber nicht glauben, daß eine Menge geschwinder Passagien solches allein zu bewerkstelligen vermögend sey. Nein, die Leidenschaften können viel eher durch etliche simple Intervalle, und geschickt darunter vermischete Dissonanzen, als durch viele bunte Figuren erreget werden.

19. §

Die zweystimmigen Cadenzen sind nicht so willkührlich, als die einstimmigen. Die Regeln der Setzkunst haben noch einen größern Einfluß darein: folglich müssen diejenigen, so sich mit Cadenzen dieser Art abgeben wollen, zum wenigsten die Vorbereitung und Auflösung der Dissonanzen, und die Gesetze der Nachahmungen verstehen; sonst können sie unmöglich was gescheides hervorbringen. Von den Sängern werden die meisten von dergleichen Cadenzen vorher studiret, und auswendig gelernet: denn es ist eine große Seltenheit zweene Sänger zusammen anzutreffen, die etwas von der Harmonie oder der Setzkunst verstehen. [158] Die meisten geben, aus einem fortgepflanzeten Vorurtheile, welches die Faulheit zur Mutter, und zur Ernährerinn hat, vor, daß dergleichen Bemühung der Stimme nachtheilig sey. Unter den Instrumentisten findet man noch eher einige, welchen es an dieser Erkenntniß nicht fehlet.

20. §.

Die zweystimmigen Cadenzen können etwas länger gemacht werden, als die einstimmigen: weil die darinne enthaltene Harmonie dem Gehöre nicht so leicht verdrüßlich fällt; auch alsdenn das Athemholen erlaubt ist.

21. §.

Diejenigen, welche nicht viel von der Harmonie wissen, behelfen sich mehrentheils nur mit Terzen- und Sexten-Gängen. Allein diese sind nicht hinlänglich den Zuhörer in Verwunderung zu setzen.

22. §.

So leicht aber die gedoppelten Cadenzen zu erfinden, und auf das Papier zu schreiben sind; so schwer sind sie hingegen ohne Verabredung zu machen: weil keiner des andern Gedanken im Voraus wissen kann. Hat man aber die Vortheile, welche die Imitationen und der Gebrauch der Dissonanzen an die Hand geben, nur in etwas inne; so ist diese Schwierigkeit leicht zu überwinden. Die Erfindung der Cadenzen aus dem Stegreife ist hier hauptsächlich mein Augenmerk. Ich will deswegen einige Exempel zum Muster beyfügen, welche man als einen Grundriß zu betrachten hat, worinne man die verschiedenen Arten der Nachahmungen, wie auch der Vorbereitungen und Auflösungen der Dissonanzen, welche hierzu dienen sollen, entworfen findet. Die Auszierungen aber, welche aus der Erfindungskraft fließen, und nicht in etliche wenige Exempel eingeschränket werden können, überlasse ich eines jeden seiner eigenen Erfindung und Geschmacke.

23. §.

Ausser den in gerader Bewegung mit einander fortgehenden Terzen und Sextengängen, bestehen die zweystimmigen Cadenzen überhaupt aus Imitationen, daß eine Stimme vorträgt, und die andere nachahmet. An diesen Imitationen haben die Bindungen großen Theil. Man bindet nämlich entweder die Secunde aus der Terze, und löset sie in die Terze oder Sexte auf: oder man kehret dieses um; so daß aus der Sexte die Septime gebunden, und in die Sexte oder Terze aufgelöset wird. Oder man geht aus der Terze in die übermäßige Quarte, und umgekehrt, [159] aus der Sexte in die falsche Quinte. Oder man verzögert auf der falschen Quinte in der Oberstimme die Auflösung in die Terze, woraus die ordentliche Quarte entsteht, die sich nachhero in die Terze auflöset. Wenn nun zwo Personen diese Vortheile inne haben, so können sie ohne Verabredung, und ohne die Regeln der Setzkunst zu überschreiten, von einer Dissonanz zur andern gehen.

24. §.

Bey einem Sextengange, wo man keine Dissonanzen berühren will, muß eine der beyden Stimmen eine Note voraus nehmen, es sey im Steigen, oder im Fallen; damit die andere sich darnach richten könne; s. Tab. XX. Fig. 9. allwo die unterste Stimme die Bewegung hat, und zu erkennen giebt, daß die Oberstimme im ersten Tacte steigen, und hernach wieder unterwärts gehen solle. Bey Fig. 10. machet die Oberstimme die Bewegung, und die unterste folget derselben. Wenn man in diesen beyden Gängen die oberste Stimme in die unterste, und die unterste in die oberste verwandelt; so findet man die Art des Terzenganges.

25. §.

Der mit der Septime vermischete Sextengang ist von zweyerley Art, nämlich steigend und fallend. Bey dem steigenden geht die Oberstimme in die Octave, und die Unterstimme aus der Sexte in die Septime; s. Tab. XX. Fig. 11. Bey dem fallenden Septimengange bindet die unterste Stimme, und die oberste resolviret: auch kann die unterste binden und auflösen, wie im zweyten Tacte des Exempels Fig. 12. zu ersehen ist. Wenn man bey den beyden vorigen Exempeln die erste Stimme zur zweyten, und die zweyte zur ersten machet; so hat man den Terzengang, wo aus der Terze die Secunde gebunden, und in die Terze oder Sexte aufgelöset wird.

26. §.

Die erste Stimme, welche gemeiniglich den Vortrag thut, muß der zweyten nicht nur Gelegenheit zu antworten geben, und auf dieselbe warten; sondern sie muß auch öfters, unter der Antwort, ein solches Intervall, welches zu einer neuen Bindung Anlaß giebt, zu wählen wissen: damit die Bindungen nicht alle auf einerley Art hinaus laufen. In dem Exempel bey Fig. 13. besteht die erste Bindung aus der kleinen Secunde; die folgende aus der mangelhaften Septime: und indem die zweyte Stimme die Figur der ersten nachmachet, bereitet sich die erste durch das H zur folgenden Septime, und löset diese in die Sexte auf. [160] Die zweyte Stimme bindet hierauf vermittelst des H die Septime noch einmal; durch das Cis gegen das G, als durch die falsche Quinte, geht sie zur Bindung, der Quarte D, u. s. w. wodurch das Ohr auf verschiedene Weise betrogen wird.

27. §.

Die Cadenzen können auch nach Art eines Canons eingerichtet werden, wie Tab. XX. bey Fig. 14. zu ersehen. Diese machet die Nachahmung in der Quarte tiefer. Die auf Tab. XXI. Fig. 1. imitiret durch Quinte und Sexte; die bey Fig. 2. durch die übersteigende, in die Terze sich auflösende Secunde. Die bey Fig. 3. imitiret wechselsweis durch die übermäßige Quarte und falsche Quinte, wie auch durch die Quinte und Sexte. Die bey Fig. 4. bindet aus der Terze die Secunde, und aus der Sexte die Septime. Die erstere löset sich in die Sexte, und die zweyte in die Terze auf. Es kann aber dieser Gang, wegen des Quartensprunges, in der Transposition nicht über zweymal angebracht werden.

28. §.

In den hier angeführten Exempeln nun, sind die meisten Gänge enthalten, wodurch eine Stimme der andern, ohne Verabredung nachahmen kann. Nur ist dabey noch zu merken, daß es auf die erste Stimme, welche ordentlicher Weise den Antrag machet, hauptsächlich ankomme, die Gänge so einzurichten, daß es die zweyte, so wohl wegen der Deutlichkeit, als auch insonderheit wegen der Tiefe und Höhe der Töne, nachmachen könne. Versteht aber der erste nichts von den hier erfoderlichen Regeln, so kann auch des zweyten seine Wissenschaft hier nichts weiter helfen. Er muß nur suchen, so gut als möglich, dem ersten in puren Terzen und Sexten nachzugehen, und die Dissonanzen zu vermeiden: weil es eine sehr üble Wirkung thut, Dissonanzen ohne Auflösung zu hören.

29. §.

Wegen der Rückkehr zum Schlusse der Cadenz ist zu merken, daß die Quarte vom Endigungstone, oder die Septime von der Grundnote der Cadenz, welches einerley ist, die Endigung der Cadenz andeute. Sie kömmt mehrentheils in der obersten Stimme vor; wenn nämlich die Cadenz durch die Terze im Einklange schließt. Die zweyte Stimme hat sich sodann hiernach zu richten, und muß unter dieser Quarte die falsche Quinte von der obern Stimme herunter gerechnet, anzubringen suchen; [161] um durch die Auflösung in die Terze sich zum Schlusse zu bereiten: wie bey den oben beschriebenen Exempeln beobachtet worden. Bey Fig. 11. Tab. XX. im vorletzten Tacte kündiget die gebundene Note C in der ersten, s. (a) und Fis in der zweyten Stimme, s. (b), das Ende an. Bey Fig. 12. thut es F mit der Septime G, s. (c) (d); bey Fig. 13. und 14. D mit Gis, s. (e) (f), (g) (h); Tab. XXI. bey Fig. 1. Es mit A, s. (i) (k); bey Fig. 2. G mit Cis, s. (l) (m); bey Fig. 3. F mit H, s. (n) (o); und bey Fig. 4. C mit Fis, und B mit E, s. (p) (q) (r) (s): worauf allemal die Triller folgen. Wenn aber die Cadenz durch die Sexte in die Octave schließt: so kömmt die Quarte des Haupttones alsdenn in die zweyte Stimme, und die übermäßige Quarte von der untersten Stimme herauf gerechnet, als die umgekehrte falsche Quinte, in die erste Stimme.

30. §.

Bey den Vorträgen und Nachahmungen, ingleichen bey den Vorbereitungen und Auflösungen der Bindungen, kann man die Figuren, oder Auszierungen, nach Belieben verlängern oder verkürzen. Man betrachte Tab. XXI. Fig. 5. und 6. da die eine lang, und die andere kurz ist. Beyde Exempel sind aus dem bey Fig. 2. genommen. Das bey Fig. 5. ist durch die Figuren verlängert, und das bey Fig. 6. durch Verlassung derselben verkürzet worden. Auf solche Art kann man mit den übrigen verfahren: so daß, durch die Veränderung und Vermischung der Figuren, eben dieselben Gänge immer wieder fremd und neu werden.

31. §.

Man hat nicht nöthig, sich bey den Doppelcadenzen immer, wie zwar bey obigen Exempeln geschehen, an eine ordentliche Tactart zu binden; ausgenommen in denen Figuren, welche der eine vorgemacht hat: denn diese müssen in eben demselben Zeitmaaße, und in eben der Anzahl der Noten, von dem andern nachgemachet werden. Je weniger Ordnung man im übrigen in den Cadenzen beobachtet, ie besser ist es: weil dadurch zugleich der Schein, als ob dieselben vorher ausgesonnen wären, vermieden wird. Doch wolle man hierunter nicht verstehen, als müßten die Cadenzen überhaupt blos aus einem undeutlichen Gewirre der Einfälle bestehen, und gar nichts melodisches in sich haben. Dieses würde den Zuhörern wenig Vergnügen erwecken. Meine Meynung ist nur, wie oben schon bey Gelegenheit der einfachen Cadenzen ist berühret worden, daß die Cadenzen nicht aus einer förmlich an einander hangenden Melodie, als [162] ein Arioso, sondern aus zwar unterbrochenen, doch gefälligen Clauseln bestehen sollen; welche Clauseln so wohl mit dem geraden als ungeraden Tacte eine Aehnlichkeit haben können. Nur muß man nicht zu lange bey einerley Art bleiben, sondern beständig aus eine angenehme Abwechselung bedacht seyn.

32. §.

Nun ist noch übrig, die halbe Cadenz, bey welcher die Oberstimme durch die Grundstimme vermittelst der großen Septime gebunden, und durch die Sexte in die Octave,* aufgelöset wird, zu betrachten. Diese halbe Cadenz pfleget in der Mitte oder am Ende eines langsamen Stückes aus der kleinern Tonart vorzukommen, s. Tab. XXI. Fig. 7. Sie wurde im vorigen Zeiten besonders im Kirchenstyle bis zum Ekel getrieben, und ist deswegen fast aus der Mode gekommen. Doch kann sie auch noch in itzigen Zeiten eine gute Wirkung thun; wenn sie nur selten und an ihrem rechten Orte angebracht wird.

  • Diese Octave ist die Quinte der Tonart, aus welcher das Stück geht, und erfodert immer die große Terze in ihrem Accorde.
33. §.

Die Auszierungen welche über eine solche halbe Cadenz, wenn sie einfach ist, angebracht werden können, haben einen sehr kleinen Umfang. Die Hauptnoten müssen aus dem Accorde der Septime, von der Grundnote an gerechnet, genommen werden, und bestehen aus der Terze und Quinte, welche über der gebundenen Septime in der Oberstimme eine Quarte und Sexte ausmachen. Man kann diese Noten so wohl von unten, als von oben nehmen; s. Tab. XXI. Fig. 8. Nur kömmt es darauf an, ob man die Auszierung lang oder kurz machen will. Soll sie kurz seyn, so kann man nur die Quarte aufwärts berühren, (s. die Note G unter dem Buchstaben (c) dieser Figur,) und von da zum Schlusse gehen. Soll sie etwas länger seyn, so kann man die Quarte und Sexte nach einander berühren, s. unter dem Buchstaben (a) und (b). Will man sie aber noch mehr verlängern, so kann man bis in die Septime herunter steigen, wie bey dieser 8. Figur, welche die Hauptnoten zeiget, zu ersehen ist. Die Hauptnoten aber können durch Figuren von Noten, auf verschiedene Art verändert und vermehret werden.

[163]
34. §.

Doppelt kömmt diese halbe Cadenz oftmals im Trio vor. Ihre Zierrathen bestehen aus eben den Intervallen, wie bey der einfachen. Nur ist zu merken, daß diejenige Stimme, gegen welche die Grundstimme die Septime bindet, den Antrag zu machen hat: die andere hingegen muß auf der Terze so lange warten, bis die erste ihre Figur geendiget hat, und auf der Sexte den Triller schlägt. Alsdenn kann die zweyte Stimme, dieselbe Figur, welche die erste hatte hören lassen, in der Quinte tiefer nachmachen; wie das Exempel bey Fig. 9. auf der XXI. Tabelle zeiget. Wenn aber die Septime in der zweyten Stimme liegt; so muß auch die zweyte Stimme den Vortrag thun, und die erste, in der Quarte höher ihr nachahmen. Man setze in dem Exempel bey Fig. 9. die zweyte Stimme eine Octave höher, und mache sie zur ersten Stimme; so wird man davon ein Muster haben.

35. §.

Von der Fermate oder der Aufhaltung ad libitum, welche zuweilen in Singsachen, beym Anfange einer Arie, in der Singstimme, sehr selten aber bey einer concertirenden Instrumentalstimme, etwan im Adagio eines Concerts, vorkömmt, ist auch noch etwas zu bemerken. Sie besteht mehrentheils aus zwoen, einen Quintensprung unter sich machenden Noten, über deren ersterer ein Bogen mit dem Puncte steht, s. Tab. XXI. Fig. 10; und wird deswegen gesetzet, damit der Sänger, welcher ein zweysylbiges, mit einem bequemen langen Selbstlauter versehenes Wort, als vado, parto, u. s. w. darunter auszusprechen hat, Gelegenheit haben möge, eine Auszierung dabey anzubringen. Diese Auszierung muß nur aus solchen Hauptnoten bestehen, welche im Accorde der Grundstimme statt finden, und erlaubet keine Ausweichung in andere Tonarten. Das Exempel Tab. XXI. Fig. 11. kann zum Muster dienen. Ein Sänger kann sich vorstellen, als wenn es in dem seiner Stimme eigenen Schlüssel geschrieben wäre. Die erste Note unter dem Bogen mit einem Puncte, kann als eine Haltung, (messa di voce) so lange als es der Athem erlaubet, mit Zu- und Abnehmen des Tones gehalten werden; doch so, daß man noch so viel Athem übrig behalte, als nöthig ist, die folgende Auszierung in demselben Athem zu endigen. Will man die Figuren, woraus dieser ganze Zierrath besteht, zergliedern; so kann solcher in verschiedene Theile getheilet, und immer um eine Figur verkürzet werden; wie die darüben befindlichen Buchstaben zeigen. Z. E. Man [164] kann entweder die Figuren unter den Buchstaben (b) (c), oder die unter (a) (b) (c) (d), oder die unter (a) (b) (c) (d) (e), oder die unter (a) (b)) (c) (d) (e) (f) weglassen, ohne daß es aufhöret eine Auszierung zu bleiben. Wie nun hier die Intervalle durch den Accord in die Höhe steigen; so kann man auch durch denselben Accord in die Tiefe gehen; wenn man nur die Figuren so einrichtet, daß man zum wenigsten, bey Endigung des Zierraths, die Anfangsnote wieder berühre; und nicht von unten, sondern von oben in die letzte Figur mit dem Triller, falle: weil dieser Triller über der Terze, nicht von unten, sondern von oben seinen Ursprung haben muß. Nach diesem Triller muß kein Nachschlag gemacht werden: und wenn solches auch von den größten Sängern begangen würde, so ist und bleibt es dennoch ein Fehler. Es muß vielmehr dieser Schluß so gesungen oder gespielet werden, wie hier in Noten ausgedrücket ist. Im Hauptstücke von den willkührlichen Veränderungen, im 36. §., ist hiervon weitläuftiger gehandelt morden.

36. §.

Der Schlußtriller der Cadenzen, in Stücken, die aus der kleinern Tonart gehen, wird zuweilen, doch mehrentheils nur beym Singen, anstatt auf der Quinte, auf der Sexte geschlagen. Man verfährt damit wie im XIII. Hauptstücke, 36. §. Tab. XV. Fig. 21. (d) von dem Einschnitte in die Terze ist gelehret worden. Ob nun wohl diese Art die Cadenz zu beschließen, wenn sie zu rechter Zeit, und mit guter Art angebracht wird, eben keine üble Wirkung thut; so ist doch nicht zu rathen, damit allzuverschwenderisch umzugehen: wie es einige Sänger zu machen pflegen, wenn sie fast allezeit im zweyten Theile der Arie, wenn solcher in der kleinern Tonart schließt, den Schlußtriller auf die obenbeschriebene Art machen. Am Ende eines Stücks klingt ein dergleichen Triller etwas einfältig; und so gebräuchlich der im 36. §. des XIII. Hauptst. beschriebene, in der Mitte des Stücks itzo noch ist, so sehr ist dieser beym Ende desselben hingegen, fast aus der Mode gekommen, und verräth folglich das Alterthum. Die Hauptursache aber warum man ihn nur bey sehr seltenen Fällen brauchen muß, ist, weil hierzu die Sexte und Quarte im Accompagnement erfodert würde. Weil nun ordentlicher Weise vor dem Schlusse eines Stücks die große Terze und reine Quinte angeschlagen werden muß; welcher Accord aber mit dem Triller auf der Sexte keinen Verhalt hat: so würde dieses am Ende des Stückes einen Uebelklang zurück lassen, und folglich dem Gehöre mehr Verdruß als Vergnügen erwecken.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gewe-
  2. Vorlage: einige
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