Vor der Berufswahl/Die Frau und das Universitätsstudium

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Autor: Helene Lange
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Titel: Die Frau und das Universitätsstudium
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 423–424, 426–427
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Vor der Berufswahl.

Warnungen und Ratschläge für unsere Großen.
Die Frau und das Universitätsstudium.
I.0 Im Ausland.

Wer sich nicht mit dem wenig gepflegten Zweig „Geschichte der Frauen“ eingehend beschäftigt hat, ist häufig der Meinung, die Forderung der Frauen, zu den gelehrten Studien zugelassen zu werden, sei trotz Ben Akiba einer der Auswüchse neuester „Emanzipationssucht“. Höchstens taucht in seinem Gedächtnis die durch Charles Kingsley popularisierte Hypatia auf. Nimmt er ein Konversationslexikon zur Hand, so liest er freilich, daß dem griechischen Altertum Aerztinnen nicht unbekannt waren, daß Rom eine nicht unbedeutende Anzahl gelehrter Frauen, vorzüglich Juristinnen, gehabt hat und Italien im Zeitalter des Humanismus eine stattliche Reihe solcher Frauen aufwies. Er erfährt ferner, daß sogar Deutschland im vorigen, ja selbst in diesem Jahrhundert eine Reihe von Frauen den Doktorhut erwerben sah; es seien nur Christiane Erxleben, Dorothea Schlözer, Karoline Herschel genannt.

Aber trotz alledem hat er recht! es handelt sich heute um etwas anderes als damals. Der Unterschied liegt auf der Hand. Hochbegabte Frauen suchten sich damals in ganz vereinzelten Fällen ihren Weg trotz aller Hindernisse und fanden ihn in noch selteneren Fällen; heute verlangt man, daß er auch der Normalbegabung geöffnet werde, so gut wie beim Mann. Erst das macht die Menge stutzig, weil erst das die Konkurrenzfurcht heraufbeschwört. An Angriffen auf jene Pionierinnen, besonders auf dem Gebiet der Arzneikunst, hat es zwar auch nicht gefehlt. Als Christiane Erxleben 1754 in Halle promovierte, schrieb Dr. Friedrich Börner, Mitglied der Römisch Kaiserlichen Akademie der Naturforscher, man müsse das weibliche Geschlecht von der ausübenden Heilkunst ganz ausschließen und durch obrigkeitliche Befehle davon abhalten. Denn, meint er, „ein Arzt muß verschwiegen sein. Wie würde man wohl dieses von den Weibern behaupten können, welchen nach der Art der Gänse der Mund niemals stille steht, sondern die beständig plaudern, ja, was man ihnen erzählt, ebensogut bei sich behalten können als ein Sack das Wasser.“ Und damit die [424] Verunglimpfung seitens der Frauen selbst nicht fehle, schreibt „die Gottschedin“: „Unsere Fakultäten kreieren, promovieren und krönen das teutsche Frauenzimmer trotz den Franzosen. Verschiedene haben ihre Wälder schon bald kahl gelorbeert. Man hat vor kurzem ein Frauenzimmer zum Doktor der Arzneikunst gemacht. Vermutlich will sie auch das Vorrecht erhalten und behaupten, einen neuen Kirchhof anzulegen.“ (Vgl. Zeitschr. f. weibl. Bildung, 1892, S. 306.)

Die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts sah nun ja überall aus Gründen, die mit der ganzen sozialen Entwicklung eng zusammenhängen, deren Erörterung aber hier viel zu weit führen würde, die Frauen in das Berufsleben eintreten, das bisher als die Domäne des Mannes gegolten hatte. Zum großen Teil zwang sie bittere Not, zum Teil das Verlangen nach einem erweiterten Lebensinhalt. Die Geschichte dieser Bewegung zeigt hier und da überraschende Scenen; die Großmut und Hochherzigkeit einzelner Männer und Landesvertretungen bahnt den Frauen bei der ersten Bitte den Weg. Anderswo finden sie erbitterten Widerstand; am entschiedensten und dauerndsten in Deutschland.

Zuerst suchten die Frauen fast überall in die Medizin einzudringen als diejenige Wissenschaft, in der sie aus ethischen und gesundheitlichen Gründen am ersten festen Fuß fassen zu müssen glaubten. Nordamerika ging in der Frage voran. Im Jahre 1844 richtete eine Engländerin, Miß Elisabeth Blackwell, an alle 13 medizinischen Fakultäten, die die Vereinigten Staaten damals zählten, ein Gesuch um Zulassung zum Studium. Eine der 13, Geneva Medical College in New York, fand sich bereit, sie zuzulassen; die letzte Entscheidung darüber aber sollten die Studenten fällen. Diese hielten eine Versammlung ab und entschieden nicht nur zu Gunsten der Dame, sondern verpflichtetes sich zugleich, sich stets als Gentlemen ihr gegenüber zu zeigen, so daß sie niemals ihren Schritt zu bereuen haben sollte. Die l2 anderen Universitäten hatten Miß Blackwell entschieden abgewiesen; eine sprach von der „unerhörten Anmaßung, die die Antragstellerin mit dem Wunsch und der Hoffnung erfüllt hat, in einen Beruf einzudringen, der dem edleren Geschlecht vorbehalten ist“; eine andere meinte, daß es unpassend und unmoralisch sein würde, eine Frau in die Natur und Gesetze ihres Organismus eingeweiht zu sehen.

Auf die ritterliche Handlung der Studenten von Geneva College folgte noch manche unritterliche, bis den Frauen unbestritten das Recht zum Studium der Heilkunde und zu anderen gelehrten Studien in den Vereinigten Staaten zuerkannt wurde. Welches Resultat der Kampf schließlich gehabt hat, ersehen wir daraus, daß Amerika heute an 2500 Aerztinnen zählt; die Zahl der weiblichen Lehrer belief sich nach der letzte Zählung auf 191000 (gegen 104000 männliche).

In England begann der Kampf um das medizinische Studium um 1860. Miß Elisabeth Garrett (jetzt Mrs. Garrett-Anderson) ergriff das medizinische Studium und wurde auch zu den verschiedenen Prüfungen zugelassen, da man nicht glaubte, daß der Einzelfall weitere Folgen habe würde. Als aber mehrere Frauen ihrem Beispiel folgten, sah man die Sache anders an. Besonders zu Edinburgh, wo Miß Jex Blake mit einigen anderen Frauen Zulassung zur Universität nachgesucht hatte, kam es zu den häßlichsten Scenen; schließlich mußten die Frauen den Kampf dort aufgeben und nach London übersiedeln, wo sie in Verbindung mit Miß Anderson ein eigenes College: The London School of Medicine for Women eröffneten. Heute erfreut sich diese Schule des regsten Zuspruches; auch in Edinburgh und Glasgow sind solche Schulen eröffnet, Edinburgh zählt deren sogar zwei. Im Jahre 1894 waren die vier nur für Frauen bestimmten Schulen von 242 Studentinnen besucht. Außerdem werden Frauen zu den ursprünglich nur für Männer bestimmten Schools of Medicine in Dublin, Belfast, Cork und Newcastle zugelassen.

Die größte Schwierigkeit bot von Anfang an die Möglichkeit ausreichender klinischer Studien. Schon im Jahre 1877 ließ aber das Royal Free Hospital in London weibliche Studenten zu; heute haben die Frauen ein eigenes, vorzüglich eingerichtetes Hospital mit 42 Betten und einem großen Stab von Aerztinnen. Im vorigen Jahre wurden dort 446 Patientinnen verpflegt und in der mit dem Hospital verbundenen Poliklinik über 10000 Patientinnen behandelt.

In das British Medical Register sind jetzt über l50 Aerztinnen eingetragen. Noch viel bedeutender ist in England die Ausdehnung der Studien auf anderen Gebieten. Die dahin zielende Bewegung begann im Jahre 1869. In Hitchin in der Nähe von Cambridge hatten sich fünf Frauen zusammengefunden, die den Versuch machen wollten, das Aufnahme-Examen für die Universität zu bestehen. Aufs hochherzigste von einigen Universitätsprofessoren unterstützt, die an dem Versuch großen Anteil nahmen, gelang es ihnen, den Anforderungen zu genügen; die Zulassung zu den Universitätsstudien war damit selbstverständlich, und nach der üblichen Zeit bestanden alle ehrenvoll das mathematische, resp. klassische „Tripos“ (das schwierigste englische Universitätsexamen). Inzwischen war in der Nähe von Cambridge ein Stück Land gekauft und der Bau eines eigenen College unternommen worden, dessen Wachsen Professoren und Studenten mit Interesse und Wohlwollen verfolgten. Im Jahre 1872 wurde das Institut unter dem Namen Girton College eröffnet. Kurze Zeit darauf entstand Newnham College in Cambridge selbst; in Oxford wurden Lady Margaret Hall und Sommerville Hall gegründet. 1878 wurde die Universität London mit allen ihren Graden den Frauen eröffnet; 1886 The Royal Holloway College mit seiner fürstlichen Ausstattung. Zwölf Millionen Mark sind auf den Bau verwendet worden, den ein Privatmann den Frauen Englands zur Verfügung stellte.

Es würde zu weit führen, die Universitätsbewegung in allen anderen Kulturländern so eingehend zu verfolgen; eine kurze Aufzählung möge genügen.

Frankreich ist den Frauen sehr früh entgegengekommen. Von 1866 bis 1882 sind schon 109 akademische Grade an Frauen erteilt worden. Im Jahre 1893 studierten in Paris 423 Frauen, meistens Medizin und Naturwissenschaften. – Die Schweiz läßt auf ihren Universitäten seit 1867 Frauen als völlig gleichberechtigte ordentliche Hörer neben den Männern zu. Im Winter 1891/92 waren 242 Frauen dort eingeschrieben, etwa 190 hörten außerdem noch Vorlesungen. – Schweden ließ 1870 die Frauen zu; von 1873 ab können sie in den „schönen Wissenschaften“ und in der Medizin dieselben akademischen Grade erlangen wie die Männer. – 1875 folgte Dänemark, 1876 Italien. – Rußland hatte 1878 medizinische Kurse für Frauen eröffnet, die aus politischen Gründen eine Zeitlang geschlossen waren; 1892 beschloß jedoch der Reichsrat die Gründung eines medizinischen Instituts für Frauen in St. Petersburg. Im Jahre 1887 praktizierten in Rußland 550 weibliche Aerzte. – In Holland hatte dem Frauenstudium prinzipiell nie etwas im Wege gestanden; 1880 wurde in Amsterdam die erste Frau förmlich zum Studium zugelassen; Belgien ließ gleichfalls in demselben Jahre die erste Frau zu. Im gleichen Jahr bat auch in Norwegen die erste Frau um Zulassung zur Universität Christiania; nach den Statuten mußte sie zurückgewiesen werden. Ein Parlamentsmitglied brachte sofort den Antrag auf Zulassung der Frauen zum Studium ein; die Unterrichtskommission befürwortete ihn einstimmig; in den Häusern ging er mit einer Stimme dagegen durch. – In Spanien und Portugal verwehrt kein Gesetz den Zutritt der Frauen zu den höchsten Lehranstalten, wenn sie auch nicht sehr häufig von ihrem Rechte Gebrauch machen. – In Rumänien fand gleichfalls schon in der Mitte der achtziger Jahre die Zulassung der Frauen zu allen Studien statt; 1893/94 studierten in Bukarest 91 Frauen. – In Oesterreich ist den Frauen wenigstens mit besonderer Genehmigung des einzelnen Falles das Studium ermöglicht, wenn es auch noch allerlei Beschränkungen unterliegt.

Es bleibt von den großen Kulturländern übrig – Deutschland.


II. In Deutschland.

Schon seit einer Reihe von Jahren haben auch in Deutschland verschiedene Frauenvereine den Versuch gemacht, die Regierungen zur Freigabe der Universitäten für die Frauen zu bewegen. Bisher sind diese Versuche erfolglos gewesen. Reichstag wie Landtage gingen entweder über die Petitionen zur Tagesordnung über, oder sie erklärten sich in der Frage nicht für kompetent, oder, wenn sie sich günstig zu der Sache stellten – was neuerdings mehrfach der Fall war, vor allem in Preußen und in Baden – so wurde doch niemals der Angelegenheit genügend Nachdruck gegeben, um die Regierung zum Vorgehen zu veranlassen. In der Presse wogte dabei ein lebhaft geführter Streit darüber hin und her, ob Frauen überhaupt ein Studium, vornehmlich das der Medizin, durchzuführen imstande seien, ob sie insbesondere den Anstrengungen der Praxis gewachsen seien, eine Frage, die nicht nur anderswo, sondern auch in Deutschland längst praktisch gelöst war. Ohne nämlich auf die Freigebung des Studiums in Deutschland zu warten, hatten [426] verschiedene Frauen sich auf ausländischen Universitäten, besonders in Zürich, zu Aerztinnen ausgebildet und unter dem Schutze der Gewerbefreiheit in Deutschland zu praktizieren begonnen. Die staatliche Anerkennung zu erlangen, gelang ihnen freilich nicht; ihre Gesuche um Zulassung zum Staatsexamen wurden abschlägig beschieden. So wirken schon seit 1877 Fräulein Dr. Franziska Tiburtius und Fräulein Dr. Emilie Lehmus in Berlin. Neben ihrer sehr ausgedehnten und stets wachsenden Privatpraxis haben die beiden Damen in der von ihnen eingerichteten Poliklinik bis zum 31. März 1894 18870 Frauen ärztlichen Rat und Beistand erteilt. In einer kleinen Pflegeanstalt sind außerdem 528 unbemittelte kranke Frauen verpflegt und behandelt worden, so daß die Thätigkeit dieser beiden Aerztinnen der Hauptstadt des Reiches, das sie nicht einmal anerkennt, zu reichem Segen gediehen ist.

Neuerdings haben sich noch Fräulein Dr. Agnes Bluhm und zwei andere Aerztinnen in Berlin niedergelassen. In Frankfurt a/M. praktiziert ferner Dr. Elisabeth Winterhalter, in Leipzig Dr. Anna Kuhnow, in Nordrach (Baden) Frau Dr. Walther-Adams. Die jährlich steigende Praxis aller dieser Frauen beweist deutlich, wie dringend das weibliche Publikum nach weiblichen Aerzten verlangt.

Bei der Erörterung der Frauenpetitionen um Zulassung zum Studium wurde wiederholt auf den Mangel einer geeigneten Vorbildung hingewiesen. Um den Gegnern des Frauenstudiums diesen Vorwand zu nehmen und zugleich den Beweis der Befähigung der Frauen für mathematische, naturwissenschaftliche und altsprachliche Studien zu erbringen, waren schon im Jahre 1889 in Berlin sogenannte Realkurse für Frauen eingerichtet worden. Ihr Lehrplan war, da ja damals an eine Zulassung zu deutschen Universitäten noch gar nicht zu denken war, zunächst den in Zürich geltenden Aufnahmebedingungen angepaßt; eine Erweiterung der Anstalt behielt man sich stillschweigend vor. Der Versuch gelang über Erwarten. Von den prophezeiten Schwierigkeiten war wenig oder nichts zu merken. Die meisten Schülerinnen der Realkurse verfolgten zwar keinen weiteren Zweck als den, ihr Wissen zu erweitern; einige aber bestanden nach 21/2 bis 3jähriger Vorbereitung ihr Maturitätsexamen in Zürich und sind heute dort in glücklicher Abwicklung ihrer Studien begriffen.

Der Erfolg ermutigte zu weiterem Vorgehen. Die Realkurse wurden in Gymnasialkurse verwandelt, d. h. sie wurden den preußischeu Gymnasiallehrplänen angepaßt. Ein Komitee, dem hervorragende Parlamentsmitglieder und Gelehrte angehören (Vorsitzender ist Heinrich, Prinz zu Schönaich-Carolath), trat zur finanziellen Sicherstellung und moralischen Unterstützung der Kurse zusammen, die im Herbst 1893 eröffnet wurden. Das Prinzip, das sich bei den Realkursen bewährt hatte, nur Erwachsene (das Minimaleintrittsalter ist 16 Jahre), nicht Kinder, aufzunehmen, wurde auch weiterhin befolgt. Da man es also nur mit erwachsenen, strebenden Menschen, mit sehr kleinen Klassen und ausgewähltem Material zu thun hatte, auch einen bestimmten Wissensstand als Vorbedingung stellte, so war eine Verkürzung der in Aussicht genommenen Lernzeit auf 4 Jahre möglich.

Im Herbst desselben Jahres wurde auch durch den Verein „Frauenbildungsreform“ ein Mädchengymnasium in Karlsruhe eröffnet, das Mädchen von 12 Jahren an aufnimmt und einen sechsjährigen Kursus hat. Ferner begründete der Allgemeine Deutsche Frauenverein Ostern 1894 Gymnasialkurse in Leipzig, und zwar nach dem gleichen Prinzip wie die Berliner Kurse.

Da eine Garantie für die spätere Zulassung der Frauen zum Studium in Deutschland noch nirgends geboten ist und alle diese Anstalten „auf Hoffnung“ errichtet worden sind, so ist ihre Schülerinnenzahl noch gering. Doch sind Anzeichen dafür vorhanden, daß die deutschen Regierungen der Sache des Frauenstudiums nicht mehr so abweisend gegenüber stehen wie früher. In Baden zeigten die Behörden bei Gründung des Karlsruher Mädchengymnasiums von vornherein großes Entgegenkommen. Vor kurzem hat die Anstalt seitens des großherzoglich badischen Unterrichtsministeriums die Zusicherung erhalten, daß bei weiterer regelmäßiger Entwicklung seinen Schülerinnen nach Absolvierung der ordnungsmäßigen Schulstudien die Zulassung zum Reife-Examen für die Universität gewährt werden solle. – Die Berliner Anstalt ist kürzlich dem Provinzialschulkollegium unterstellt worden, und auch in Sachsen scheint man der Sache Wohlwollen zu schenken. So wird vermutlich der günstige Ausfall einer ersten Prüfung den Bann endlich brechen.

Ein weiteres Zeichen des allmählichen Umschwunges, der sich in der öffentlichen Meinung und in den maßgebenden Kreisen vollzogen hat, ist, daß verschiedene Universitäten Frauen als außerordentliche Hörerinnen zugelassen haben. Freilich wird immer nur von Fall zu Fall entschieden und nach dem Belieben der einzelnen Docenten. Am weitesten ist bis jetzt die Universität Heidelberg in ihren Zugeständnissen den Frauen gegenüber gegangen. Die naturwissenschaftlich-mathematische Fakultät stellte beim Kultusministerium den förmlichen Antrag, es solle der Besuch der Vorlesungen und Uebungen innerhalb der Fakultät denjenigen Besucherinnen gestattet werden, welche die Fakultät nach Aeußerung ihrer sachverständigen ordentlichen Mitglieder für hinreichend vorbereitet erkläre. Die Zustimmung des vortragenden Lehrers sei jedoch dabei in jedem einzelnen Falle vorausgesetzt, auch die Erlaubnis als eine stets widerrufliche zu betrachten. Das Kultusministerium genehmigte den Antrag (November 1891). Dieselbe Universität verlieh auch am 16. Februar vorigen Jahres Fräulein Käthe Windscheid auf Grund einer Dissertation über „die englische Hirtendichtung von 1579–1625“ die philosophische Doktorwürde.

Neuerdings tritt auch Göttingen in den Vordergrund. In diesem Sommer sind dort nahezu zwanzig Hörerinnen zugelassen, die sich besonders dem Studinm der Mathematik, der Naturwissenschaften, doch auch dem der Nationalökonomie, der Germanistik und der neueren Philologie zugewendet haben. Fräulein Chisholm bestand dort vor kurzem ihre Doktorprüfung magna cum laude; sie hatte Mathematik, Physik und Astronomie studiert.

So stehen bis zur Stunde die Dinge in Deutschland. Daß sie sich nur noch eine kurze Spanne Zeit in dieser Schwebe halten lassen werden, ist klar; der Fortschritt auf allen Gebieten ist international, und das Zurückbleiben eines Kulturlandes hinter dem andern kann ohne Schädigung der eigenen Interessen immer nur Jahrzehnte dauern.

Um so notwendiger wird es sein, heute, wo die Dinge ihrem Wendepunkt nahen, die Aussichten und Fährlichkeiten des Frauenstudiums zu erwägen, nicht im Prinzip, sondern in individueller Anwendung. Was man im Prinzip gegen und für das Frauenstudinm sagen kann, ist alles unzähligemal hin und her gewendet, wie mir scheinen will, mit sehr geringem Erfolg. Ob die einzelnen Argumente Bedeutung haben oder nicht, kommt ganz und gar auf das Individuum an.

Es wird sich in erster Linie auch bei uns um den ärztlichen Beruf handeln. Philologische und andere Studien werden mancher Lehrerin zur Ausbildung willkommen sein; notwendig sind sie nach dem Stande der heutigen Prüfungsordnungen für sie nicht. Zum ärztlichen Beruf wird sich sicherlich nach Freigebung des Studinms eine Anzahl Mädchen oder Frauen drängen, denen der innere Beruf dazu abgeht, die nur ein unklarer, ehrgeiziger Drang, die Lust nach etwas Besonderem treibt. Solche Erscheinungen sind untrennbar von neuen Entwicklungsstadien. Sie verschwinden nach kurzer Zeit spurlos, weil die Betreffenden nicht ihre Rechnung finden. Kinderkrankheiten wie diese sollten der Sache selbst nicht zur Last gelegt werden.

Was nun die Frage betrifft: welche Frauen sind physisch und psychisch geeignet für den ärztlichen Beruf, so lassen wir sie durch eine Frau beantworten, der die reichsten Erfahrungen in Bezug auf diese Frage zu Gebote stehen. Fräulein Dr. Tiburtius sagt darüber: „Wenn jemand die allerdings sonderbar klingende Frage aufwerfen würde: Ist der Mann zum Beruf des Arztes physisch und psychisch geeignet, so würde die Antwort lauten: viele Männer sind es, aber nicht alle. Der Beruf des Arztes erfordert vollkommene Gesundheit, auch normale Sinnesfunktionen, im übrigen in körperlicher Beziehung mehr Ausdauer und Resistenzfähigkeit als hervorragende Muskelkraft. Das Gleiche gilt für die Frauen, die den Beruf ergreifen.

Wie jeder andere Mensch kann auch der Arzt, resp. die Aerztin, einmal krank werden und gezwungen sein, die Praxis eine Weile aufzugeben; es tritt dann der Kollege oder die Kollegin für sie ein. Doch die Schwankungen von einem Tag zum andern, die Migränen, die Nervenverstimmungen müssen der Frau fern sein oder doch unter Herrschaft gehalten werden; sie muß die Fähigkeit haben, auch unter gelegentlichem körperlichen Unbehagen Gleichmäßigkeit der Stimmung, gute Laune, Arbeitskraft und Arbeitslust, freundliches Eingehen auf die Klagen anderer zu bewahren.

Selbstverständlich muß Durchschnittsintelligenz vorhanden sein – etwas mehr ist natürlich vorteilhaft; ebenso die Fähigkeit [427] zu konsequenter geistiger Arbeit, Freude an theoretischem Denken und eine gewisse Anlage und Uebung zu kritisierender Ueberlegung und zur Selbstkritik; Beobachtungsgabe pflegt man den Frauen ja nicht abzustreiten.

Noch eins ist für die Aerztin erforderlich: der Beruf giebt reiche Befriedigung für solche, die von persönlichem Behagen abstrahieren können; sonst darf sie nicht allzuviel vom Leben verlangen, und manches, woran das Herz des jungen Mädchens hängt, muß aufgegeben werden.

Ich glaube nun doch, daß es eine ganze Anzahl von Frauen giebt, welche nach ihrer physischen und psychischen Konstitution für den ärztlichen Beruf geeignet sind; sollte es ja vorkommen, daß einige in Selbsttäuschung das Studium ergreifen, so wird wahrscheinlich der Schaden für die Allgemeinheit nicht groß sein. Wenn nicht während der Vorbereitungszeit, so doch während des Studiums dürfte der Irrtum ihnen selbst und andern klar werden.“ (Ethische Kultur. 2. Jahrgang Nr. 18.)

Für den Anfang, d. h. bis der Beruf der Aerztin allgemeine Anerkennung gefunden haben wird, müssen die dafür notwendigen geistigen und sittlichen Erfordernisse doppelt betont werden. Von den Pionierinnen auf diesem Gebiet wird mehr Intelligenz, mehr Aufopferungsfähigkeit, mehr Ausdauer und Widerstandsfähigkeit verlangt werden als von den späteren Vertreterinnen des Berufs. Es bedarf also einer sehr ernsten Selbstprüfung, ehe sich ein junges Mädchen dafür entscheidet. Aus diesem Grunde zumeist haben die Berliner und Leipziger Kurse sich dafür entschieden, keine Kinder aufzunehmen, da weder diese noch ihre Eltern wissen können, ob sie sich für den Beruf eignen. Erwähnt sei schließlich noch, daß es für ganz Unbemittelte nicht ratsam erscheint, den ärztlichem Beruf zu ergreifen. Wenn auch bereits einige wenige Stipendien für weibliche Studierende bestehen (der Allgemeine Deutsche Frauenverein hat sie zu vergeben), so können diese doch höchstens einen Zuschuß zum Leben gewähren. Die Studienzeit aber wird, die Vorbereitungszeit inbegriffen, neun bis zehn Jahre umfassen; ob sich danach gleich eine gesicherte Existenz findet, ist mindestens zweifelhaft.

Endlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß nur solche Frauen Medizin studieren sollten, die Energie und Selbständigkeit genug besitzen, um sich nachher einen Wirkungskreis zu schaffen, der sich immer nur langsam finden wird. Es muß keine glauben, daß man nur auf sie gewartet habe. Die junge, eben von der Universität kommende Aerztin wird sich ebenso allmählich das Vertrauen weiterer Kreise erst erringen müssen wie der junge Arzt.

Wenn alle diese Warnungen ausgesprochen werden mußten, um ungeeignete Kräfte von einem Beruf zurückzuschrecken, der seiner Wichtigkeit wegen unter den Frauenberufen mit in erster Linie steht, so darf anderseits wohl zum Schluß ausgesprochen werden, wie wünschenswert es ist, daß willensstarke, selbständige Frauen von hervorragenden Fähigkeiten sich dem ärztlichen Beruf widmen, der, wenn er auch viel Entsagung und Selbstverleugnung erfordert, doch auch wieder der echten Frau eine tiefe Befriedigung gewährt. Helene Lange.