Wintervergnügen auf der Newa

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Autor: G. C. Heigel
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Titel: Wintervergnügen auf der Newa
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 212–215
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Rennthier-Schlittenfahrt auf der Newa.
Nach der Natur aufgenommen von F. Teichel in St. Petersburg.

[212]

Wintervergnügen auf der Newa.

Von G. C. Heigel.

Goethe hat einmal gesagt, daß man im Winter hinter dem Ofen die schönsten Frühlingslieder dichte. Es mag dies wahr sein, denn man besingt stets das am besten, was man momentan entbehrt. Wir nun entbehren den Winter durchaus nicht und sind, nachdem wir fast acht Monate von Schnee und Eis umgeben waren, viel zu vernünftig, uns nach dem Winter zurückzusehnen, wenn uns [214] nach einem Uebergange von nur wenigen Tagen die Sonne in einen großen Schweißtropfen aufzulösen droht. Deshalb vielleicht existiren hier so wenige Gedichte, die den Winter besingen, und doch ist es eben dieser strenge Gast, der dem Petersburger Leben Schwung und Poesie verleiht, soweit letztere hier überhaupt zu finden ist.

Wo früher der finnische Fischer mitten im Sumpfe seine Hütte hatte, in der er ein kümmerliches Dasein fristete, da sprach Er: „Es werde eine Stadt,“ und Petropolis ward; so sagt Puschkin, und wahrlich, welche Vorwürfe man Peter dem Großen bezüglich der Gründung von Petersburg machen mag, bewundernswerth bleibt die gigantische Kraft, die aus dem Chaos der Newa-Sümpfe die kolossale Stadt heraufbeschwor, die sich jetzt in den Fluthen des bis dahin jungfräulichen Stromes spiegelt, und stolz blickt auch heute noch der eherne Czar von seinem Granitblocke nieder auf die grünen Wogen, die er in Fesseln schlug.

Aus der langen Reihe unsrer Wintertage nehme ich einen heraus, um den Leser zu einem Spaziergang einzuladen. Wolkenlos wölbt sich der blaue Himmel, über unserm Haupte, und die Sonne, die zwar nicht hoch genug steigt, um uns viel sichtbar zu werden, vergoldet die Kuppeln der Kirchen und kleidet die oberen Stockwerke der Häuser in freundliche Tinten. Kerzengerade steigt der Rauch aus Tausenden von Schornsteinen, aber schon in unmerklicher Höhe in Reif verwandelt, bildet er bald einen Niederschlag, der sich auf Alles setzt, was in sein Bereich kommt. Die Pferde sind alle mindestens Grauschimmel, denn unter der Reifdecke ist ihre Farbe verschwunden, die meist bärtigen Iswostschiks[1] erscheinen mir als eben so viele ehrwürdige Greise, und wir selbst, wenn wir nach einem kurzen Spaziergange an einem Spiegel vorbeikommen und uns wohlwollend anblicken, sind versucht, den Hut abzuziehen und zu grüßen, so väterlich sehen wir aus. – Wir gehen über den Newsky-Prospect. Nur mühsam drängen wir uns durch die Tausende von Spazierenden, die das schöne Wetter in’s Freie gelockt hat. Es ist eben zwei Uhr; die Parade ist aus. In Schlitten und Wagen fliegen die Generale, die derselben beigewohnt haben, an uns vorüber. Ein kleiner einspänniger Schlitten hat uns überholt. Alles salutirt und grüßt; es war der Kaiser, den wir in so einfachem Fuhrwerke freilich nicht vermuthet hätten. Wir kommen zum Ende des Newsky-Prospects und auf den Admiralitätsplatz. Zu unserer Rechten dehnt sich das Generalstabsgebäude aus, zur Linken sehen wir die vergoldeten Kuppeln der Isaakskirche, weiter sehen wir den Sitzungspalast des Senates und der heiligen Synode. Vor uns etwas links haben wir die Admiralität mit ihrer goldnen Spitze, etwas rechts haben wir das Winterpalais und die damit zusammengebaute Eremitage, den Lieblingsaufenthalt der Kaiserin Katharina der Großen, der aber unter den letzten Regierungen zum Kunsttempel umgeschaffen worden ist. In der Mitte des Platzes zwischen Winterpalais und Generalstab ragt die berühmte Alexandersäule empor, die einen deutlichen Beweis von der Rauhheit des Petersburger Klima ablegt, denn wir sehen an ihr, daß selbst der Granit demselben nicht widerstehen kann. Es zeigen sich in ihr bedeutende Risse und Sprünge, und die Commission von Sachverständigen, die darüber zu rapportiren hatte, hat ihr ein Bestehen von nur höchstens 30 Jahren versprochen. Das Boulevard zwischen Winterpalais und Admiralität verfolgend, kommen wir zur Matuschka[2] Newa, wie sie der Russe nennt. – Vor uns breitet sich eine weite Eismasse aus; in kleiner Entfernung sehen wir das schöne Ufer von Wasilii-Ostrow[3]; die Rostra vor der Börse, diese selbst, die Sternwarte, die Universität, die Akademie der schönen Künste und Wissenschaften bieten einen imposanten Anblick. Das Panorama wird von der schönen Nicolaibrücke würdig abgeschlossen.

Betreten wir die Newa vom Landungsplätze neben der Admiralität, so fällt uns zuvörderst etwas links eine compacte Menschenmenge auf. Wir treten näher und sehen, daß die Samojeden der Anziehungspunkt für diesen Zuschauerkreis sind.

Es giebt bekanntlich verschiedene samojedische Stämme, die an den Ufern des nördlichen Eismeeres leben; die wir hier vor uns sehen, kommen aus dem Gouvernement Archangelsk. Ihr Wohnort liegt jenseits des 65. Grad nördlicher Breite. Die Tundren oder Einöden, die sie bewohnen, sind unwirthbar; außer dem in seinen Ansprüchen so bescheidenen Rennthiere und dem Hunde, den die Vorsehung uns in allen Zonen zum Freunde und Wächter zugetheilt hat, existirt fast kein Thierleben. Trotz alledem liebt der Samojede in seiner Art gut zu essen und noch mehr zu trinken; nach diesen beiden Neigungen kommt die dritte, der Schlaf. Von der Trunksucht der Samojeden wird viel erzählt, und wie weit sie gehen muß, beweist der Umstand, daß sie oft eine gefahrvolle Fahrt von 100 Werst und mehr nicht scheuen, um einige Schluck Branntwein zu erlangen. Es ist natürlich, daß bei Menschen, die größtentheils durch weite Wüsteneien von ihres Gleichen entfernt sind, bei denen der Boden culturunfähig ist und folglich auch die Civilisation durchaus keinen Eingang finden kann, alle thierischen Bedürfnisse die Oberhand haben müssen. Die Mesenschen Samojeden bewohnen die östliche Hälfte des Gouvernements Archangelsk, einen Raum von 11,600 Quadratmeilen. Die ganze Bevölkerung jenes kolossalen Landstriches besteht aus 4,900 Individuen, von denen nur ein sehr kleiner Theil feste Wohnsitze hat. Die Uebrigen wohnen in Zelten, die sie bald da, bald dort aufschlagen, je nach den Bedürfnissen ihrer Rennthierheerden, die sich oft auf 10 – 20,000 Stück belaufen. Ein solches Zelt (Tschum) besteht aus einigen in den Boden gesteckten Stangen, um die eine doppelte oder dreifache Lage von Rennthierhäuten einzig Schutz gegen die Unbilden des dortigen Klimas gewährt. Innen ist der Fußboden mit einem Geflechte von Zweigen belegt, über das abermals eine Decke von Rennthierfellen gebreitet ist. In der Mitte ist eine Erhöhung, auf der ein kümmerliches Feuer mehr raucht, als brennt. An den unteren Enden der Zeltstangen hängen die wenigen Kochgeschirre. Ein solches Zelt ist dem anderen bis auf die Raumverhältnisse stets durchaus gleich. Wenn man bedenkt, daß die Samojeden in diesem stinkenden Winkel ihre neun Wintermonate fast ununterbrochen zubringen, so muß man sich über die Zähigkeit der Menschennatur wundern. Der Wechsel vom Winter zum Sommer ist fast ohne irgend einen Uebergang, und nach wenigen Tagen sieht man da, wo vorher Schnee und Eis die unermeßliche Fläche bedeckte, plötzlich bunte, theils mit Moos, theils mit Gras bewachsene, von zahlreichen Seen und Flüssen bewässerte Fluren. Die Freude ist aber nur kurz, denn schon nach 10–11 Wochen gewinnt der Frost wieder die Oberhand, und ein weiter Schneemantel bedeckt wieder die kümmerliche Vegetation, die sich kaum zu entfalten schien. Während des Sommers beschäftigt sich der Samojede mit Jagd und Fischfang, und es ist unglaublich, mit welcher Waghalsigkeit er sich auf seinem gebrechlichen Fahrzeuge oft weit in die hohe See wagt.

Doch ich versprach eine Beschreibung der Wintervergnügungen auf der Newa und halte eine Vorlesung über Völkerkunde. Der Leser vergebe mir, ich werde um so kürzer sein, um für die vorhergehende Länge zu entschädigen. Die Samojeden, die wir hier vor uns sehen, gehören zu dem eben beschriebenen Stamme der Mesenschen. Der Unternehmungsgeist, der sich auf Alles erstreckt, hat sich ihrer bemächtigt. Für wenige Kopeken fahren uns diese Söhne des Polarkreises von der Palast- bis zur Nicolaibrücke, und wir haben Gelegenheit, uns de facto von der Schnelligkeit der Rennthiere zu überzeugen, denn die bedeutende Strecke, die wir durchfahren, wird hin und zurück in wenigen Minuten zurückgelegt. Der Schlitten, den wir vor uns sehen, und aus dem die Samojeden Sommers und Winters fahren, könnte in Anbetracht ihres Wohnortes gar nicht praktischer sein. Zwei weit auseinander stehende Kufen tragen auf Sprossen, die sich nach oben nähern, den Sitz, der leiterartig und mit Rennthierfell überzogen ist. Am Vordertheil des Fuhrwerks befinden sich kleine Klötzchen mit Löchern, durch die die Zugstränge gezogen werden; an diesen letzteren sind Gurte, die dem Thiere einfach über den Hals geworfen werden, und die Bespannung ist fertig. Die Leine, denn es ist nur eine vorhanden, mögen noch so viele Thiere vorgespannt sein, wird an das Geweih des links gehenden Rennthieres befestigt. Außerdem bedient sich der Samojede zur Lenkung seines langen Stockes, an dessen einem Ende sich eine Eisenspitze, am anderen ein Knopf befindet. Der Anzug der Samojeden, ganz aus Thierfellen bestehend, ist durchaus nicht unkleidsam. Ein Hemd aus Rennthierfellen, bei dem die Haare nach innen, die Haut nach außen gekehrt sind, und das sie „Malitza“ nennen, bildet den Haupttheil derselben. Außerdem Strümpfe und Stiefel ebenfalls von Fellen, die letzteren aus verschiedenfarbenen Streifen zusammengenäht. Die [215] Mütze, wenn überhaupt, was selten, eine vorhanden, ist vom Felle junger Rennthiere. Das Hemd der Frauen, „Jandy“, ist anschließender und weit bunter, gewöhnlich mit verschiedenen Pelzstreifen und farbigen, meist rothen Tuchlappen und Streifen verziert; außerdem tragen die Weiber meist eine Kapuze von Zobel und anderen kostbaren Fellen. Ich würde den Leser gern in das Innere des auf unserem Bilde befindlichen Tschum führen, um ihn mit einer samojedischen Schönheit bekannt zu machen, aber der erste Versuch, den ich in dieser Beziehung machte, war so unglücklich, daß ich von dieser Absicht abstehe; wir kennen das Innere des Zeltes bereits aus obiger Schilderung und sehen nicht viel daran, mich aber machte der darin herrschende üble Geruch auf mehrere Tage unwohl, und die Reize dieser nordischen Venus sind von einer so gediegenen Schmutzkruste verhüllt, daß die beste venetianische Halbmaske ein wahres Kinderspiel dagegen ist, denn Wasser an seine Physiognomie zu bringen, ist dem Samojeden ein Gräuel, höchstens reibt er sich hie und da das Gesicht mit ein wenig Birkenbast, ein Reinigungsmittel, das den damit erzielten Erfolgen nach wohl nicht sehr probat ist. – Betrachten wir nun noch die Rennthiere. Sie haben die größte Aehnlichkeit mit unserem Hirsche. Die Farbe ist schmutzig weiß.. Das Auge ist groß, schwarz und deutet Intelligenz an; das Bein ist weit stärker als das unseres Hirsches, die breiten Hufe erinnern an die der Kuh. Das Geweih scheint bei ihm gar keine Norm zu haben, da ich hier nur Abnormitäten sehe. An Größe steht das Rennthier dem Hirsche bedeutend nach, und seine Haltung ist bei weitem nicht so edel, wie die des Letzteren, denn ruhend beugt es den Kopf weit nach vorn und auch im Laufe wirft es ihn weit weniger stolz zurück. Aber gesegnet seist Du, armes Thier, das du nach einem Leben der Arbeit und Entbehrung Tausenden von Menschen noch Nahrung, Kleidung und Obdach giebst.

Ein Industriezweig zieht immer den andern nach sich. So sehen wir bei dem Samojedenzelte eine Art von Roulette, bei dem man mit Kopeken sein Glück versuchen kann. Bärtige Muschiken[4] umstehen den grünen Tisch, und auch der zäheste wagt, nach entsprechendem Kratzen hinter dem Ohre, ohne das der gemeine Russe nie einen wichtigen Entschluß faßt, einen Satz, bei dem es aber dann leider nicht immer bleibt. Unterdessen gehen Verkäufer verschiedener Art umher und suchen ihre Waaren anzubringen. Hier empfiehlt ein Mensch mit einem Samowar[5] auf dem Rücken seinen heißen Thee, dort ruft ein Anderer mit heiserer Stimme sein Gefrornes aus, denn trotz der grimmigen Kälte wird auch dieses genossen. Je nach ihren allopathischen und homöopathischen Ansichten wählen die Umstehenden dieses oder jenes, während sich Andere mit dem Leibgenuß der Russen, Haselnüssen und anderen ähnlichen Delicatessen regaliren; wir aber müssen jetzt nach der anderen Seite der Winterpalaisbrücke, um uns das Wettrennen anzusehen.

In weitem Kreise umstehen Tausende von Zuschauern den auf dem Flusse zwischen dem Schloßquai und der Petersburger Seite abgesteckten Rennplatz. Zu Seiten des Balcons, auf dem die Preisrichter ihre Plätze haben, sind Tribünen angebracht, auf denen aber nur eine sehr geringe Zahl von Schaulustigen Platz findet. Wir sehen hier die Löwen und Löwinnen der Petersburger Gesellschaft. Denn trotz Paris haben auch wir unsere elegante Menagerie, und die schmachtenden Blicke unserer „biches“ stehen vielleicht denen, die Dich in Longchamps, im Bois de Boulogne etc. treffen, nicht nach. – Geschäftig laufen die Budotschniki[6] hin und her, um Ordnung zu halten, können aber doch nicht verhindern, daß in den Pausen da und dort Gruppen von Zuschauern die Barrieren überschreiten, in der Hoffnung, auf der anderen Seite der Rennbahn einen besseren Platz zu finden. Die Besitzer der gegenüberliegenden Vorderplätze jagen die Eindringlinge zurück; daher Stöße, Schelten, Schreien, Gelächter, Fallen auf dem Eise, humoristische und ernste Vermahnungen der Polizeisoldaten – da erschallt die Glocke zum Zeichen der Abfahrt, und wie durch Magie herrscht überall die musterhafteste Ordnung. Beim dritten Zeichen beginnt das wilde Jagen der Rennschlitten. Die Bahn hat drei Werst im Umfange, was, da sie je zwei Mal umfahren werden muß, also sechs Werst, d. i. 6/7 einer deutschen Meile ausmacht. In wenigen Minuten wird diese Strecke durchfahren, und je nachdem sie an den Zuschauern vorüberfliegen, wird der Sieger mit Jubel und Hurrahrufen, der Besiegte mit Gelächter empfangen. Die Rennschlitten sind von der leichtesten Construction, der Kutscher, der die Zügel führt, steht darin aufrecht; ihn begleitet für den Fall eines Unglückes stets ein anderer Kutscher, der den Sitz des Schlittens einnimmt. Es rennen immer nur je zwei und zwei Schlitten. Die Sieger rennen unter sich von Neuem, bis endlich einer sieggekrönt aus dem Kampfe hervorgeht. Die Preise bestehen in Geld, in werthvollen goldnen Medaillen und Silbergeräthschaften, die theils vom Kaiser, theils von einer zu diesem Zwecke bestehenden Gesellschaft ertheilt werden. Natürlich finden auch hier, wie in England, Privatwetten statt, und wie dort, so auch hier, hat sich schon mancher Crösus auf der Rennbahn ruinirt. Zwischen den einspännigen Schlitten ist der Kampf beendet, und sogleich beginnt das Rennen der Troiken.[7] – Wir sehen drei wirklich prachtvolle Troiken, wovon die des Fürsten S… entschieden die ansehnlichste ist. Dieser selbst betrachtet schon halb siegesbewußt mit ironischem Lächeln die Gespanne der Mitkämpfer. Fast erstaunt sind wir, als man uns noch eine vierte Troika von schmutzigweißen, hageren, finnischen Pferden als Mitbewerberin um den Preis des Tages bezeichnet. Entweder gehört sehr viel Bewußtsein oder grenzenlose Unverschämtheit dazu, mit diesen Kleppern gegen die Prachtpferde, aus denen die übrigen Troiken zusammengesetzt sind, ankämpfen zu wollen. Die Glocke erschallt, die Troiken, die das Loos bestimmte, zusammenzufahren, treten in die Schranken. Das dritte Zeichen, und die beiden Schlitten setzen sich unter Jubelruf in Bewegung. In athemloser Eile stiegen sie dahin. Der finnische Rosselenker bleibt mit seinem Gespann fast eine halbe Bahnlänge zurück. Lautes Jauchzen begrüßt die augenscheinlich siegende Troika des Gegners, als sie zum ersten Male am Ziel vorüberfliegt. Bald folgt auch der armselige Dreispann des Finnen unter dem Hohngelächter der Menge. Aber schon sind sie unseren Augen entschwunden. Nach einigen Minuten bemerken wir am Drängen am unteren Theile der Bahn, daß sie herankommen, und siehe, plötzlich erscheinen beide Troiken auf gleicher Linie; mit Windeseile schießen sie heran – einige Secunden athemloser Spannung, dann ein lautes Hurrah! – der Finne ist zuerst am Ziele angekommen!

Nun beginnt das Rennen der beiden anderen Troiken; die des Fürsten S. bleibt Siegerin. Den Pferden wird eine halbstündige Rast gegönnt, während welcher Fürst S., der noch immer ironisch lächelt, in der Bahn auf- und abgehend, einige Freunde bittet, ihm den Punkt anzugeben, wo seine Troika die des Finnen überholen soll. – Wir betrachten uns mittlerweile die uns im Rücken liegende Festung mit dem kühn himmelanstrebenden Glockenthurme der Kathedrale Peter und Paul. – Schon erschallt wieder das Signal. Beim ersten Tone des dritten Zeichens pfeift die Knute[8] des Finnen durch die Luft; im wilden Laufe stürzen die Pferde davon; ehe noch der fürstl. S.’sche Kutscher sich in Bewegung setzen konnte, hatte er schon einen bedeutenden Vorsprung und blieb, trotz aller Anstrengungen des Gegners, Sieger. Fürst S. war verschwunden. Ob er wohl noch ironisch lächelte?

Aber mittlerweile ist es kalt geworden, schon hüllt sich unsere Umgebung in abendliche Nebel. Wir werden gut daran thun, die erstarrten Glieder in irgend einem warmen Raume aufzuthauen; der Fluß ist öde geworden, auch wir gehen. – Eilt nicht dort nach der Festung zu eine lange Reihe von Schlitten? – Sie liefert uns den Beweis, daß es heute unseren außerstädtischen Vergnügungsorten Chrestofsky, Petrowsky etc. nicht an Besuchern mangeln wird. – Sollte es Herrn Keil angenehm sein, so fahren wir wohl einmal mit einander auch dorthin. Bis dahin auf Wiedersehen – und besten Gruß an die deutsche[WS 1] Heimath!



  1. Analog mit unseren Droschkenkutschern.
  2. Mütterchen. Verkleinerung von matj, die Mutter.
  3. Wilhelms-Insel, die, von der großen und kleinen Newa umflossen, einen eigenen Stadttheil bildet.
  4. Eigentlich Bauer, verächtlich gesprochen, wird aber auf Alle, die den niederen Volksclassen angehören, angewandt.
  5. Wörtlich Selbstkocher, die Theemaschine, die bei dem Russen das wichtigste Hausmöbel ist. Es wird mit Wasser gefüllt, das ein in der Mitte befindlicher, mit glühenden Kohlen gefüllter Cylinder schnell zum Kochen bringt.
  6. Schutzmänner. Der Name ist abgeleitet von ihren Wachthäusern, die man Budka nennt.
  7. Dreispann.
  8. Peitsche, ein kurzer Holzstiel mit einem kurzen Riemchen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: deutschen