Wir Deutsche und unser Deutsch
[120] Wir Deutsche und unser Deutsch. Wir haben so oft unseren berechtigten Stolz auf unsere Literatur ausgesprochen, daß wir dieser Wahrheit wohl einmal eine andere entgegenstellen dürfen, nämlich die: daß die Behandlung der von unseren Dichtern und anderen Literaturgrößen so hoch ausgebildeten deutschen Sprache von Seiten der Nation noch viel zu wünschen übrig läßt. Jeder Deutsche müßte vor Allem auf möglichste Wahrung der Reinheit und Richtigkeit der Sprache halten, deren Geistesschätze ihm eine so hohe Stelle unter den Culturnationen einräumen. Leider ist es damit aber gerade bei uns schlechter bestellt, als bei irgend einem andern Volke.
Den schlimmsten Einfluß auf unsere Sprache üben unsere Dialekte aus. So groß der Werth derselben als einer Quelle immer neuer Erfrischung und Bereicherung unserer Schriftsprache auch anzuschlagen ist, so beklagenswerth ist doch die Ueberherrschaft, die sie besonders in Mittel- und Süddeutschland über die Aussprache des Schriftdeutschen üben. Aber diese Lässigkeit bleibt nicht beim Sprechen stehen, sondern dehnt sich auch über die schriftlichen Aeußerungen aus, und zwar nicht blos in den Kreisen, welche gar keine Orthographie haben, sondern auch in denen der Gebildeten, ja selbst mitunter der Gelehrten.
Der Berechtigung dieser Klage wird schwerlich widersprochen werden können, aber dennoch ist die Zahl Derer, welche dies einsehen und bereit sind, dem selbstgefühlten Mangel an voller Kenntniß und Beherrschung der Muttersprache durch nachträgliche Studien abzuhelfen, nicht eben groß. Je mehr aber die Entwickelung unseres nationalen Lebens jeden Einzelnen in die Öffentlichkeit drängt, je mächtiger und wichtiger der Werth des öffentlichen Wortes wird, desto mehr werden wir darauf hingewiesen, im Punkte der Sprache das Versäumte nachzuholen. Und dieses Bedürfniß, welches sich ohne Zweifel sehr bald mit Macht fühlbar machen wird, ist es, welchem einer unserer hervorragendsten deutschen Sprachkenner und zwar in der jetzt bewährtesten Methode vorgearbeitet hat. Vor uns liegen: „Deutsche Sprachbriefe von Professor Dr. Daniel Sanders“ (Langenscheidt’sche Verlagshandlung in Berlin).
Wem es ehrlich darum zu thun ist, die deutsche Sprache in ihrem Reichthume und ihrer Schönheit ganz kennen zu lernen, sie sich völlig zu eigen zu machen und dabei in die Entwickelungsgeschichte unserer Literatur eingeführt zu werden, der wird Sanders’ Sprachbriefe bald zu den besten Kleinodien seiner Hausbibliothek zählen. Freilich verlangt dieses Schriftwerk gewissenhaften Fleiß, wenn es seinen Werth erweisen soll.