Zum Capitel der „Wahlwühlerei“

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Titel: Zum Capitel der „Wahlwühlerei“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 568
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[561]

Auch eine „Wahlwühlerei“.
Nach seinem Gemälde auf Holz gezeichnet von Karl Kronberger

[568] Zum Capitel der „Wahlwühlerei“. (Mit Abbildung S. 561.) Das Schicksal der Völker wird nicht allein auf blutigen Schlachtfeldern entschieden. Schwerer für das Wohl und Wehe einer Nation wiegen die Beschlüsse, welche in den parlamentarischen Versammlungen gefaßt werden; denn durch dieselben wird sowohl die Wehrkraft des Staates geregelt, wie der materielle Wohlstand und die geistige Entwickelung seiner Bürger beeinflußt. Daher wurde auch bei allen Culturvölkern die Zeit, welche den Wahlen vorausging, durch eine fieberhafte Thätigkeit der politischen Parteien gekennzeichnet. Und wie einst um die Gunst des römischen Volkes die Tribunen und die Patrizier auf den Straßen und auf dem Forum warben, so geschieht es auch heute bei uns nach Tausenden von Jahren. Der politischen Agitation der Neuzeit stehen zwar gewaltige, früher unbekannte Mittel zur Verfügung, wie die Macht des gedruckten Wortes in der Gestalt der Flugschriften und der Zeitungspresse, aber trotzalledem kann auch sie des ältesten Hebels der mündlichen Agitation nicht entbehren, so sehen wir, daß auch jetzt während der Wahlcampagne nicht allein die Führer der Parteien durch öffentliche Reden das Volk unter ihre Fahnen zu bringen suchen, sondern daß in dieser Zeit das Land mit politischen Agenten überfluthet wird, welche in Privatgesprächen den einfachen Mann für ihre Zwecke bearbeiten. Die Wichtigkeit des letzteren Agitationsmittels darf nicht unterschätzt werden: denn die Geschichte hat gelehrt, daß Parteien, deren Presse von der Regierung mundtodt gemacht wurde, einzig und allein mit Hülfe dieser stillen Agitation bei den Neuwahlen in alter Stärke und sogar manchmal in größerer Zahl aus der Urne hervorgingen.

Eine Scene aus dieser halbgeheimen politischen Agitation stellt unser heutiges Bild dar – eine Scene, wie sie sich wohl gegenwärtig im deutschen Vaterlande tausendfach abspielt. Die Bürgerstunde hat längst geschlagen; die fröhlichen Gäste des Wirthshauses sind verschwunden; sogar das Schenkmädchen ist in Anbetracht der außergewöhnlich langen Sitzung eingeschlafen; nur zwei hervorragende Persönlichkeiten der kleinen Gemeinde, der reichste Bauer und der bei seinen Mitbürgern beliebte Bäcker, haben Stand gehalten. Mit ihnen bespricht nun der am Tische sitzende Agent einer politischen Partei die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen. Er hält das Manifest der Gegenpartei in der Hand und unterwirft es einer scharfen, vernichtenden Kritik. Ja, es spricht sich gut in diesem kleinen Kreise. Hier darf gesagt werden, was sonst in der öffentlichen, von der Polizei bewachten Versammlung verschwiegen werden mußte, was aus Rücksicht auf den Staatsanwalt in der Presse nicht gedruckt wurde. Hier kommt das Alles zu Tage – Wahres und leider auch Falsches, Lob und Verleumdung. „Wahlwühlerei“ ist der technische Ausdruck, mit welchem die officiöse Presse diese Thätigkeit mit sittlicher Entrüstung bezeichnet. Aber wozu die Scheinheiligkeit? Welche Partei in der Welt wird auf dieses Agitationsmittel verzichten? Oder wäre da nicht ein langes Lied zu singen von der „Wahlwühlerei“ der Herren Landräthe und Gensd’armen, der hohen und gar niedrigen Staatsbeamten?

Was nun der „Wühler“ auf unserem Bilde den beiden Philistern vorträgt, das dürfte schwer zu errathen sein. Vom sozialdemokratischen Zukunftsstaate mit allen seinen verlockenden Paradiesbildern wird er ihnen schwerlich etwas erzählen. Dazu paßt die Gesellschaft nicht. Vielleicht aber erklärt er dem Bauer, wie viel mehr harte Thaler er jahraus jahrein in Folge der segensreichen Kornzölle in seine Tasche stecken wird, und rechnet dem Bäcker vor, wie viel weniger directe Steuern von Haus und Grundstück und von daliegendem zinsentragendem Vermögen von da ab bezahlt werden, da man indirecte Steuern, bei denen „die Masse es bringen muß“, eingeführt hat. Vielleicht predigt er das Gegentheil und überzeugt Beide davon, daß der Handel und Wandel frei bleiben, die Lasten auf alle Stände, je nach ihrer Zahlungsfähigkeit, gleich und gerecht vertheilt werden müssen, wenn das Reich bestehen, wenn der Einzelne gedeihen, wenn das Volk groß und stark werden soll.

Aus den Augen des Agitators auf unserem Bilde leuchtet, wiewohl versteckt, siegesfrohe Zuversicht hervor. Er hat die Beiden überzeugt, und nun weiß er, daß sie an dem nahe bevorstehenden Tage der allgemeinen Wahlen, an welchem die Stimme des schlichtesten Tagelöhners ebenso viel gilt wie die des eisernen Kanzlers, für seine Partei einstehen und in geschlossener Colonne ihren nicht unbedeutenden Anhang zur Wahlurne führen werden.