Zum Goethe-Gedenktag
Zum Goethe-Gedenktag.
Kurz vor dem Ende des Jahrhunderts, auf dessen Entwicklung der Genius Goethes so tausendfältig gewirkt hat, wird des Dichters hundertfünfzigster Geburtstag für die gebildete Welt zum festlichen Anlaß, dieses herrlichen Wirkens in dankbarer Bewunderung zu gedenken. Mit leuchtendem Glanze zieht sich durch die Geschichte unseres Jahrhunderts von seinen Erdentagen die Spur, die gleich der seines „Faust“ nicht in Aeonen untergehen kann.
Nach Millionen zählen die Exemplare seiner Werke, die in diesem Zeitraum über den ganzen Erdkreis Verbreitung gefunden haben, nach Millionen die Menschen, welche Erbauung und Erquickung höchster Art, ja das eigene Lebensideal aus diesen Werken geschöpft haben. An den Stätten, wo Goethes Dasein vornehmlich Wurzel schlug, in Frankfurt a. M., Leipzig, Straßburg und in Weimar, hat sich an ihm in stets wachsendem Maße bewährt, was in des Dichters „Tasso“ mit Bezug auf Ferraras Musenhof und seine Gäste gerühmt wird. Sein Vaterhaus und sein Sterbehaus sind Nationalheiligtümer geworden, die seinem Gedächtnis geweiht sind. In einer Litteratur von tausend Bänden haben bedeutende Männer, die nach ihm kamen, die Gedanken niedergelegt, welche das Studium seiner Werke in ihnen erzeugte. Eine besondere Wissenschaft beschäftigt sich nur mit ihm, und auf unseren Universitäten werden Vorlesungen über seine Dichtungen gehalten wie über die Gesänge Homers. Unzählige sind seinen Spuren nach Italien, nach Rom und Neapel gefolgt, um in seinem Sinn durch das lebendige Erfassen der Kunst der Renaissance und der Antike veredelnd auf die Bildung ihrer Zeitgenossen zu wirken. Und kein Dichter ist seit ihm in Deutschland erstanden, der nicht – und sei’s mit Widerstreben – in ihm seinen Meister erkannt hätte! Unter dem Vorgang Beethovens haben die größten Musiker des Jahrhunderts ihr Können darangesetzt, Goethesche Poesie in tönende Schönheit zu wandeln. Wer von der Bühne herab Nachruhm gewann, seit Gretchen und Faust, Clärchen und Egmont, Götz und Clavigo, Iphigenie und Orest, Leonore und Tasso deren Bretter zuerst betraten, gehörte auch zur Priesterschaft des Schönen, die einst Goethes Machtwort zur Nachfolge berief, als er in Weimars Hoftheater mit Schiller das Muster einer deutschen Nationalbühne schuf. Und so befruchtete Goethes Genius auch die bildende Kunst, sein Genius – wie seine menschlich schöne Persönlichkeit, der in der Jugend Aehnlichkeit mit einem Apoll, im Alter Aehnlichkeit mit dem Olympier nachgerühmt wurde, und die zu seinen Lebzeiten wie nach seinem Tode Maler und Bildner immer wieder begeistert hat, Goethe als das Ideal eines Dichters darzustellen, der mit „sonnenhaftem“ Auge die Schönheit der Welt umfaßt.
Aber nicht nur in Wissenschaft und Kunst hat sich diese gewaltige Wirkung von Goethes Genius vollzogen. Auch auf den großartigen politischen Aufschwung, den die deutsche Nation im ablaufenden Jahrhundert erlebte, hat er einen nicht hoch genug zu schätzenden Einfluß geübt. Erst der Besitz einer Nationallitteratur, deren idealer Gehalt in allen Gauen des Vaterlandes als gemeinsames Gut empfunden wurde und um welche das Ausland die Deutschen beneidete, rief das deutsche Nationalgefühl wach, dessen Großthaten die politische Geschichte des Jahrhunderts verzeichnet. Erst das Bewußtsein dieses gemeinsamen Gutes entzündete die patriotische Begeisterung, die 1813 den deutschen Stämmen und Dynastien die Kraft verlieh, das Joch des Korsen von sich abzuschütteln, die in tapferen Männern der Metternichschen Gewaltherrschaft zu trotzen wußte, die 1848 diese Herrschaft brach und 1870 auf den Schlachtfeldern in Frankreich jene Siege errang, die zur Errichtung des neuen Reichs führten.
Als Goethe zu schreiben begann, hatte die deutsche Sprache so wenig Ansehen in der Welt wie der Begriff der deutschen Nation. Die Eigensucht der Dynastien und Stämme hatte das nationale Bewußtsein vernichtet; die deutsche Sprache war in der Welt der Gelehrten ebenso mißachtet wie an den Höfen;
[561][562] Friedrich der Große setzte seinen Ehrgeiz darein, in Paris als französischer Autor zu gelten. Die „Gebildeten“ sprachen das Französische wie eine zweite „feinere“ Muttersprache. Ueberall Herrschaft des Fremden, Nachahmung fremdländischer Vorbilder.
Wie Lessing in diesen Zustand mit der blanken Klinge seines Geistes dreinfuhr, ist bekannt. Aber sein Erfolg war nicht durchgreifend, so wenig wie die Versuche Klopstocks, Wielands, Winckelmanns, Herders, die deutsche Sprache auch den feineren Wendungen des Gedankens dienstbar zu machen. Erst Goethes „Götz“ und sein „Werther“ übten solche Wirkung aus. Erst Goethe schöpfte seine Schriftsprache aus dem Jungbrunnen der Mundarten des Volkes, des deutschen Volkslieds, der alten Volkslitteratur, des Lutherschen Bibeldeutsch, so daß er für sein persönlichstes Empfinden und sein kühnstes Denken echt volkstümlichen und echt deutschen Ausdruck fand. Von dieser Wirkung Goethes schrieb Herman Grimm vor fünfundzwanzig Jahren wohl nicht zu überschwenglich: „Goethes Verse haben erst die Schillers in Fluß gebracht. Goethe hat Schlegel die Fülle verliehen, Shakespeare beinahe in einen deutschen Dichter umzuwandeln. Goethes Prosa ist nach und nach für alle Fächer des geistigen Lebens zur mustergültigen Ausdrucksweise geworden. Durch Schelling ist sie in die Philosophie, durch Savigny in die Jurisprudenz, durch Alexander von Humboldt in die Naturwissenschaften, durch Wilhelm von Humboldt in die philologische Gelehrsamkeit eingedrungen. All unser Briefstil beruht auf dem Goethes. Unendlich viele Wendungen, die wir gebrauchen, ohne nach ihrer Quelle zu fragen, weil sie uns zu natürlich zu Gebote stehen, würden uns ohne Goethe verschlossen sein. – Aus dieser Einheit der Sprache ist bei uns die wahre Gemeinsamkeit der höheren geistigen Genüsse erst entsprungen und ohne sie wäre unsre politische Einheit niemals erlangt worden.“
Freilich läßt sich dieses Verdienst nicht rühmen, ohne daß wir dabei dankbar des Einflusses gedenken, den Herder auf Goethe damals gerade geübt hat, als er in Straßburg und Frankfurt zum Dichter des „Götz“ und des „Werther“ heranreifte, – ohne daß wir zu Schiller aufblicken, den Rietschels schönes Denkmal vor dem Theater in Weimar neben Goethe stehend darstellt, mit ihm einen Lorbeerkranz haltend. Als der junge Schiller aber 1782 die erste Aufführung der „Räuber“ erlebte, hatte Goethes „Götz“, sein „Werther“ schon beinahe ein Jahrzehnt lang auf die Nation gewirkt. Goethe war es, der die geistige Bewegung, welche Herder angefacht hatte, zum Sieg führte; er war es, der den Hof Karl Augusts in Weimar zum Musensitz umschuf, der die Berufung Herders und Schillers nach Weimar, Jena bewirkte und jenen Wetteifer höchsten Strebens entfachte, unter dessen belebendem Ansporn Schillers „Wallenstein“ und seine weiteren Dramen entstanden. Herders großes Verdienst bleibt, daß er, der Forscher, der den „Stimmen der Völker“ in ihren Volksliedern lauschte, den jungen Goethe in Straßburg gerade in der Richtung beeinflußte, in der sich thatsächlich die Wiedergeburt der deutschen Litteratur vollziehen sollte. Er wies als Denker nach, welche Bedeutung für die Poesie der nationale Charakter und die Natürlichkeit des Empfindens habe; da fand sich in Goethe der Dichter, der aus eigenstem naiven Wesen heraus national und gleichzeitig natürlich empfand. Herder durfte Goethe den Weg bereiten; den Weg selbst zu beschreiten, war ihm nicht gegeben.
Als Goethe in der Vaterstadt am Main, der alten Krönungsstadt der deutschen Kaiser, aufwuchs, herrschte darin der Franzos. Der französische Statthalter, der „Königslieutnant“, hatte seine Wohnung in Goethes Vaterhaus. Der Riß, der damals schon durch die deutsche Welt ging, weil Preußen und Oesterreich als Feinde sich maßen, war auch in Goethes Familie spürbar: der gestrenge Vater des Dichters, der kaiserliche Rat, war ein Anhänger Friedrichs II; die frohgemute „Frau Rat“, die Mutter Goethes, Urenkelin eines Syndikus, Tochter des Stadtschultheißen der Freien Reichsstadt, hing im Herzen dem Kaiserhaus an, dessen Repräsentanten in ihrer Vaterstadt gekrönt wurden. Großvater Textor aber, der Stadtschultheiß, der über Franz I den Krönungshimmel getragen hatte und der im „Römer“ die gewichtige goldene Kette mit dem Bildnis der Kaiserin trug, war ein leidenschaftlicher Anhänger Oesterreichs. Dieser Konflikt in der Familie öffnete dem Knaben Wolfgang früh das Auge über die traurigen Zustände im Vaterlande. Mit dem Vater begeisterte er sich wohl für die sieghafte Persönlichkeit des Preußenkönigs, mit der Mutter aber schwärmte er für die frühere Reichsherrlichkeit, auf welche der „Römer“, der Dom, alle festlichen Bräuche der Vaterstadt glanzvoll zurückwiesen.
Die ersten Eindrücke der dramatischen Kunst empfängt er durch französische Stücke, durch eine französische Truppe; mächtiger wirken auf ihn die alten heimischen Volksschauspiele, deren Stoffe aus der Geschichte des deutschen Rittertums und alten Volkssagen stammen. Er spricht und schreibt in der oberdeutschen Mundart der Vaterstadt; in der naiven Sprache alter Chroniken wird er heimisch. Fünfzehn Jahre alt, erlebt er dann selbst die Krönung Josephs II: er wird Zeuge all der pomphaften Vorbereitungen, die ihm als Enkel des Stadtschultheißen vor vielen anderen zugänglich sind. Die farbenfreudige Welt der mittelalterlichen Kaiserzeit wird mit aller Pracht der Kostüme und symbolischen Bräuche vor seinen Augen lebendig. Zugleich aber überzeugen ihn persönliche Erlebnisse von der Unzulänglichkeit der Rechtsverfassung, die in der Vaterstadt herrscht. In Leipzig bezieht der Student eine Wohnung in einem der wenigen Quartiere von altertümlichem Reiz. In Auerbachs Keller belebt sich ihm die Gestalt des Zauberers Faust aus dem Volksspiel. Im Verkehr mit der sächsischen Bevölkerung wird er sich der Eigenart seiner oberdeutschen Mundart bewußt, und Versuche, sie ihm abzugewöhnen, bestärken ihn in der Freude an dieser Eigenart, ihrer Bildlichkeit, Gedrungenheit, ihrer Neigung zu sprichwörtlichen Redensarten. Aber an der „galanten“ Umgangssprache der gebildeten Leipziger lernt er auch die eigene Ausdrucksweise glätten, und die ursprüngliche Kraft der Meißnischen Mundart, in der Luther einst schrieb, tritt ihm entgegen in der schwertscharfen Prosa Lessings. Gleich einer Offenbarung wirkt Lessings „Minna von Barnhelm“ auf ihn ein, und er wird sich bewußt des „vollkommenen norddeutschen Nationalcharakters“ dieses lebensprühenden Zeitbildes. Die eigenen poetischen Versuche zeigen ihn aber noch auf den Spuren der äußerlichen Nachahmer des Anakreon und Horaz, offenbart sich in ihnen auch schon die Natürlichkeit seines Empfindens in lebhafter Frische. Die behagliche Grazie Wielands bestrickt ihn. Noch tändelt die von der Mutter ererbte „Frohnatur“ mit den Reizen des Lebens; sie gerät in Konflikt mit dem „ernsten Führen“ des Vaters; sein wissensdurstiger Geist, nach höchster Erkenntnis strebend, wendet sich unruhig und unbefriedigt von einer Fakultät der andern zu; Kummer und Krankheit vertiefen sein Gefühl, machen es aber auch in Frankfurt dem Einfluß mystischen Grübelns zugänglich.
Da kommt er nach Straßburg, der alten Reichsstadt am Rhein, die nun bereits seit einem Jahrhundert ganz zu Frankreich gehört, im Wesen aber noch völlig deutsch ist. Die großartige Schönheit des Münsters packt ihn im Innersten: solcher Kunst von so deutscher Art und so großen Stils will er sein Leben weihen. Schon recken sich die Gestalten des Götz und des Faust vor seiner Phantasie zu der Größe empor, in der sie in seine Dramen übergingen, da verweist ihn Herder auf Shakespeare, und bei diesem findet er den dramatischen Stil für ein Schaffen ins Große, in einer Sprache von nationaler Kraft und freiester Natürlichkeit des Ausdrucks. Und aus der Fülle der Gesichte, die ihm die Knabenzeit in Frankfurt aus deutscher Vergangenheit gewährte, ordnen sich vor seinem Geist, im bunten Wechsel, wie ihn Shakespeare liebte, farbenfrische scenische Bilder für diese Dramen. Herder macht ihn ferner mit seinen Sammlungen von Volksliedern bekannt und weckt in ihm die Lust, auf seinen Wanderungen durchs Elsaß selbst solche zu sammeln und sein lyrisches Talent an ihrem schlichten Ton zu schulen. Auf solcher Wanderung durch die ländliche Umgebung Straßburgs kommt er in ein Pfarrhaus, das ihm ein Freund als eine Wiederholung der Idylle gepriesen hat, welche Goldsmith im „Landprediger von Wakefield“ schildert, und hier lernt er das Mädchen kennen, dessen frischer Liebreiz die erste große Liebesleidenschaft in ihm weckt, Friederike Brion, die Tochter des Pfarrers von Sesenheim. Wie eine Verkörperung des Volksliedes trat sie ihm entgegen, in der schmucken Nationaltracht der Elsässerinnen, naive Frische, heitere Anmut im Wesen. Und die Liebe zu Friederiken löst seinem Herzen die Sprache; die [563] Lieder, die er seinem „Mädgen“ widmet, haben kein Vorbild mehr, die Liebesfülle, die in ihnen glüht, entströmt ganz unmittelbar seinem Innern: „Fühle, was dies Herz empfindet!“ Mitteilen will er sein Gefühl und im geliebten Herzen Wiederhall wecken. Aus dem stürmischen Hufschlag des Rosses, das ihn aus der Stadt hinaus zur Geliebten trägt, aus dem Jubeltakt seines eigenen Blutes erklingt ihm der Rhythmus zu seinem Sang – „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war gethan fast eh gedacht!“ – die Wonne des Glücks, die ihn noch im Trennungsschmerz durchschauert, jauchzt er mit heißem Herzenstrotz in die Welt: „Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück!“
Es war eine schöne Fügung, daß das hundertjährige Gedenkfest an diese Straßburger Osterzeit von Goethes Poesie gerade in die Zeit fiel, welche uns die Wiedererrichtung des Deutschen Reiches und den Wiedergewinn des Elsaß brachte. Häßlicher Klatsch hatte inzwischen das Andenken an die von Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ so ergreifend erzählte „Idylle von Sesenheim“ getrübt. Da brachte die „Gartenlaube“ jenen Aufsatz des Pfarrers Lucius von Sesenheim („Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses“, Jahrg. 1871, S. 452), den Erich Schmidt später in seinen „Charakteristiken“ so treffend „eine schöne Friedensbotschaft auf dem Boden eines gemeinsamen Kultus“ genannt hat, „welche die letzten Schatten von Friederikens Namen für immer verscheuchte.“ Begeisterte Goetheverehrer in Straßburg haben sich dann zusammengethan und jenen Hügel beim Sesenheimer Pfarrhaus erworben und mit einer Laube geschmückt, auf welchem zwischen Bäumen und Gesträuch Friederike ihren Lieblingsplatz hatte und so gern mit dem Geliebten – wie es das Bild auf S. 561 darstellt – in traulicher Gemeinschaft weilte. Und wenn demnächst das Goethe-Denkmal in Straßburg hinausschauen wird in das nun längst wieder zum Reiche gehörige Elsaß und der davor Weilende des kurzen Glückes und der langen Reue gedenken wird, die dem Dichter aus der Liebe zu Friederiken erwuchsen, so wird er voll dankbarer Sympathie auch der lieblichen Tochter dieser Landschaft gedenken, die, „selber eine Rose jung“, blühende Rosen reinsten Glückes in Goethes Jünglingsleben flocht und nach deren Bilde der Dichter die rührendsten Züge seines „Gretchen“, wohl der ergreifendsten Mädchengestalt der Weltlitteratur, schuf.
Er selbst hat am Ende seiner Laufbahn die Bedeutung seines Wirkens für die deutsche Nation und deren Litteratur in dem bescheiden stolzen Bekenntnis zusammengefaßt: „Wenn ich aussprechen soll, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen: denn sie sind an mir gewahr geworden, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse.“ Von innen heraus waren die Gedichte an Friederike erklungen, aus seinem Innern stammte das freudige Heldenbewußtsein des Götz, das heitere Selbstvertrauen seines Egmont, Werthers Entzücken an der Natur, der schaffensfrohe Trotz des Prometheus und das titanische Ringen des Faust nach höchster Erkenntnis und höchster Erdenwonne, aber auch die Reue des Clavigo. In fast all seinen Dramen und Romanen stellte er den Drang der rein menschlichen Empfindung, sich frei zu bekennen und auszuleben, dem Konventionellen gegenüber, der Macht der herrschenden Zustände. „Lebt der Natur gemäß, entfaltet eure angebornen Organe, lauscht nicht nur der Klugheit, sondern auch der Stimme des Herzens!“ rief er den Deutschen zu in dem Organe der „Stürmer und Dränger“, den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“. Und so mahnte sein Dichterwort auch dann, als sich sein naives Bekennen der rein menschlichen Empfindung in ein bewußtes Verkündigen des Bildungsideals der reinen Menschlichkeit, der „Humanität“ gewandelt hatte, als nicht mehr Shakespeare und das Volkslied ihm die Muster für seinen Stil boten und seine „Iphigenie“ unter dem blauen Himmel Italiens, unter dem Eindruck der „ewigen“ Kunstwerke Roms ihre Vollendung fand. Was von den Lippen des Bruder Martin im „Götz“ hervorbricht als stürmische Klage – „Mir kommt nichts beschwerlicher vor, als nicht Mensch sein zu dürfen!“ – das verkündet Iphigenie als Evangelium einer abgeklärten sittlichen Weltanschauung der Zukunft. Ein Irrtum aber ist es, zu meinen, Goethes Poesie habe in diesem Stadium ihrer Entwicklung ihren nationalen Charakter verloren. Das Humanitätsideal, das Goethe als gereifter Mann mit Lessing, Herder, Schiller teilte, war ja die edelste Blüte der humanistischen Bildung, welche die besten Geister Deutschlands seit der Reformation angestrebt hatten. Goethes Iphigenie ist ebenso deutschen Blutes wie sein Gretchen; Charlotte von Stein fand in jener ihr Abbild wie Friederike Brion in dieser. Die Gestalten in „Hermann und Dorothea“ fühlen nicht weniger deutsch, weil sie in Hexametern sprechen. Und Goethes Vaterlandsliebe führt in dieser Dichtung noch wärmere Sprache als im „Götz“. Eindringlicher und mit direkterem Bezug auf die Friedensstörer aus Frankreich am Rhein als ähnliche Stellen im „Götz“ klang die Mahnung des wackeren Hermann ins Vaterland:
„Wahrlich, wäre die Kraft der deutschen Jugend beisammen,
An der Grenze, verbündet, nicht nachzugeben den Fremden,
O, sie sollten uns nicht den herrlichen Boden betreten!“
Das ist freilich im Wechsel der Zeiten recht oft übersehen worden. Weil Goethes Stellung als Minister Karl Augusts ihn nach Sands Attentat auf Kotzebue zwang, gegen die erst von ihm begünstigte Burschenschaft in Jena einzuschreiten; weil er sich überhaupt nach den Befreiungskriegen gegen die unklare patriotische Bewegung der enttäuschten Jugend von 1813 ablehnend verhielt, zieh man ihn des Mangels an Vaterlandsliebe. Man schalt auf den „Dichter im Ministerrock“, den „Olympier“, der über den Wolken schwebe. Daß der gealterte Dichter, den auch als Forscher weitabliegende Aufgaben in Anspruch nahmen, anders empfand als sie, wollten die neuen Stürmer und Dränger nicht begreifen. Man spielte Schiller gegen ihn aus, mit dem er doch vereint dem deutschen Theater, als einem Bollwerk gegen die deutsche Vaterlandslosigkeit, in dem fruchtbaren Jahrzehnt von 1795 bis 1805 einen nationalen Charakter gegeben hatte. Man vergaß, daß der von Goethe beratene Herzog der erste von allen deutschen Fürsten gewesen war, der seinem Lande eine freisinnige Verfassung gab, die auch Preßfreiheit gewährte. Doch als später Eckermanns Gespräche mit Goethe und andere Zeugnisse seines geheimen Denkens und Fühlens erschienen, gestanden die liberalen Patrioten offen ihren Irrtum ein, und die Führer des Jungen Deutschland, Gutzkow und Laube, wurden die eifrigsten Verkünder seines Ruhmes. Heute sehen wir mit Staunen, wie das mächtige Adlerauge des Dichters in jenen hohen Jahren gleichwie die eigene Zeit die Zukunft des Jahrhunderts überschaute. Wir erkennen in seinen Aeußerungen über die nationale Bewegung ein realpolitisches Denken, das sich in denselben Bahnen bewegte, auf denen das staatsmännische Genie des Jahrhunderts seinen Siegen entgegenschritt. „Mir ist nicht bange,“ sagte Goethe im Jahre 1828, als Metternichs antinationale Politik in ihrem Zenith stand, „daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige thun. Vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander, und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind! Es sei eins, daß der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reich gleichen Wert habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passieren könne. Es sei eins, daß der städtische Reisepaß eines weimarischen Bürgers von den Grenzbeamten eines großen Nachbarstaats nicht für unzulänglich gehalten werde, als der Paß eines Ausländers. Es sei von Inland und Ausland unter deutschen Staaten überall keine Rede mehr. Deutschland sei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag. Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe, und daß diese eine große Residenz wie zum Wohl der Entwicklung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum. – Wodurch ist Deutschland groß als durch eine bewunderungswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reichs durchdrungen hat? … Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände, ja, auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht!“
[564] Aus jenem Jahre stammt das lebensvolle Porträt des Dichters von dem Münchner Hofmaler Stieler, welches die erste Seite dieser Nummer schmückt und dessen nähere Besprechung der Leser auf S. 580 findet.
Damals stand Goethe vor dem Ende seiner Tage, wie der greise Faust im Schlußakt des zweiten Teils der Dichtung sein Lebenswerk überschauend, das seinem Volke eine neue Welt schuf. In der Symbolik dieser Scene gestaltete er noch einmal sein Humanitätsideal: der von allen Leidenschaften befreite Faust findet sein Glück in dem Wirken für andere, in der Wonne des Schaffens, das andere beglückt! Auch ein kleiner Spruch aus jener Zeit, den Goethe einem Darsteller des Orest in das demselben gewidmete Exemplar der „Iphigenie“ schrieb, enthält die Quintessenz der idealen Weltanschauung, welche die Seele seiner reifsten Werke bildet:
„Was der Dichter diesem Bande,
Glaubend, hoffend, anvertraut,
Werd’ im Kreise deutscher Lande
Durch des Künstlers Wirken laut!
So im Handeln, so im Sprechen,
Liebevoll verkünd’ es weit:
Alle menschlichen Gebrechen
Sühnet reine Menschlichkeit!“
Mit diesem Mahnwort geleitet Goethes Genius die zur Macht geeinte Nation an die Pforten des neuen Jahrhunderts.Johannes Proelß.