Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen/Johann Wolfgang von Goethe
Goethe, des deutschen Vaterlandes Stolz und dessen
größter begabtester Dichter, wurde zu Frankfurt a. M.
geboren; der Großvater war Schultheiß der freien
Reichsstadt, der Vater nahm den Titel eines kaiserlichen
Rathes, aber kein öffentliches Amt an, und leitete nicht
ohne eine gewisse pedantische Strenge die Erziehung
des Knaben, während liebevolle Sorgfalt und Pflege
einer genialen Mutter dessen Gemüth für Poesie empfänglich
machte und ihn eine glückliche Jugend durchwandeln
ließ. Indem er vieles lernte, vieles erspähte,
durchlebte der junge Goethe, begabt mit offenem Sinn
für alles heitere, schöne und anmuthvolle, für Märchen
und Sagen, für Puppenspiele und Volksbücher, für
Sprachen, die er mit Leichtigkeit sich aneignete, und
unter sinnreichen Spielen seine Knabenjahre bis zum
Jünglingsalter, an dessen Schwelle ihm sich früh die
Liebe erschloß, die ihm alle Wonnen und alle Schmerzen
in die Seele strömte. Er mußte einer unschuldvollen
Jugendneigung, Gretchen, entsagen, und auch später
unter tiefen Leiden des eigenen Herzens lernen, die
Leiden anderer Herzen mit erschütternder Wahrheit zu
schildern. Der Vater drängte den Sohn zum Studium
der Rechtsgelehrsamkeit hin; mit innerem Widerstreben
gehorchte jener und besuchte 1765 die Universität
Leipzig. Diese Stadt, von der Goethe nicht ohne Bedeutung
später sagte: »Mein Leipzig lob’ ich mir, es
bildet seine Leute« – half ihn äußerlich und innerlich
bilden – er lernte zunächst leben, und dann einsehen,
daß die poetische Schule der Zeitgenossen, die Dichtungen
Gottsched’s, Gellert’s u. A. zu überflügeln sein
dürften. Mehr als das Studium der Rechtswissenschaft
zog die Kunst den strebenden Geist des Jünglings an;
an Malerei hatte er schon im Aelternhause Freude gewonnen,
als der siebenjährige Krieg französische Einquartierung
in dasselbe gebracht hatte, und mit ihr den
Kunstfreund Grafen von Thorane. Goethe nahm in
Leipzig Zeichnenunterricht bei dem verdienstvollen berühmten
Oeser und lag eifrig den Studien der bildenden
Kunst ob, denen er praktisch, durch Zeichnen
und Selbstätzen, Leben zu geben versuchte. Aber das
Einathmen der Säurendämpfe und manche Unregelmäßigkeit
des Lebensgenusses machten ihn krank; seine
[Ξ] Stimmung wurde trübe; in solcher getrübten Stimmung
kehrte er zur Heimath zurück, gefiel sich im
stillen Hinbrüten, studirte mystische, kabbalistische und
alchymistische Schriften, ja er laborirte selbst, und begann
vielleicht die ersten Entwürfe und Anfänge zu Faust,
in denen das geheimnißvolle solcher Studien, wie die
angedeuteten, hindurchklingt, während er viele andere
seiner Manuscripte verbrannte. Doch er sollte nach
des Vaters strengem Willen das Rechtsstudium in
Straßburg fortsetzen, und that es, lernte dort tüchtige
und berühmte Männer, Jung Stilling, Lenz, Lavater
und Herder kennen, in deren Umgang sich das etwas
altväterisch und pedantisch zugestutzte Leben erfrischte.
Dort knüpfte und löste Goethe den Herzensbund in
Sesenheim, den er so lieblich geschildert, wurde Doctor
der Rechte und rang sich mehr und mehr empor zu
einem kraftvollen und genialen Streben. Alles an ihm
war jetzt eigen, selbständig, ja excentrisch und andere
mächtig anziehend; er fand neue Ausdrücke und überraschte
mit ihnen. Sein Götz erschien und ward mit
Begeisterung begrüßt; ein Aufenthalt in Wetzlar gab
Eindrücke, die den Werther schufen; beide Bücher
weckten zahllose Nachahmungen, Götz allarmirte die
Köpfe, Werther die Herzen der Jugend. Von Stufe
zu Stufe schritt Goethe nun gemessen höher zum
Tempel seines Ruhmes; über Weimar stand der Stern
seines Lebens, dorthin zog ihn der Freundesruf des
jungen Herzogs Carl August. In Arbeit und Vergnügen
theilte sich fortan sein Leben; der Hof, die
Gesellschaft, der Thüringerwald, der Harz, Kunst- und
Naturstudien, Botanik und Mineralogie, Karlsbad,
Italien, alles beschäftigte auf das anregendste und in
reicher Fülle, dazwischen entstanden die unsterblichen
Meisterwerke. Ein in sich ganz klarer, ganz vollendeter
Geist war Goethe geworden, daher trat in ihm
eine gewisse Abgeschlossenheit gegen das hervor, was
von außen sich einzudrängen oder was sich aufzudrängen
suchte. So blieb er der Politik im allgemeinen und
mit Recht fern und fremd, so stieß die Kant’sche Philosophie
den Dichter ab, so vermochte er nicht, Schiller,
den eifrigen Jünger dieser Philosophie, von Anfang
ihrer Bekanntschaft an gleich zu lieben, wie sehr er sich
ihm später als redlicher Freund bewährte. Was als
Schatten an Goethe’s Wesen, was als Mangel an
manchen minder hoch zu stellenden Schriften von ihm
bezeichnet werden kann, hat die schonungslosesten Richter
gefunden, und hat er sich irgendwo und wie eine literarische
Sünde zu Schulden kommen lassen, so hat er
sie um so härter büßen müssen, je größer er war, als
andere. Aber selbst über das Maaß der Gerechtigkeit
hinaus gingen Feinde und Gegner, ja sogar der blöde
Unverstand erhob die Waffe gegen den unübertreffbaren
Meister. Seine tiefernsten Natur-Studien wurden verkannt,
der Dichter sollte nicht auch Naturforscher
sein wollen, und doch war er ein solcher im Geist und
in der Wahrheit. Seine Farbenlehre, seine Metamorphose
der Pflanzen wurden nicht verstanden; man
tadelte sie, ohne sie zu studiren. Das alles rauschte
vorüber, und unantastbar steht der Ruhm des hochbegabtesten,
ausdauernd fleißigsten und redlich strebendsten
Dichters, Kunst- und Naturforschers, Staatsmannes
und Weisen auf dem Grundbau seiner Werke.
Götz, Tasso, Iphigenie, Faust, Hermann und Dorothea
werden ewig dauern, und wie der Name Homer’s durch
das Gedächtniß aller Zeiten klingt, wird Goethe’s
Name gefeiert fortklingen in allen Regionen des Erdballs,
so lange dieser auf seiner Wandelbahn um die
Sonne »mit Brudersphären Wettgesang« tönt, und
das Leben der Menschheit auf ihm Dauer hat. –
Glückliches Leben und höchstes Lebensziel verliehen die
Himmlischen ihrem Liebling; er stand ruhig und groß
über dem Lärm und den Wirren der Zeit, ihre Wetter
und Wolken zu seinen Füßen, sein Haupt im Licht.
»Mehr Licht!« war sein letzter Ruf, als sich in seinem
dreiundachtzigsten Jahre das irdische Licht verdunkelte.
Was Deutschland an Goethe besaß, und was es freudig
von ihm fortbesitzt, das reiche Erbtheil seines weltumfassenden
Geistes, wird immer mehr erkannt werden
von den kommenden Geschlechtern, und wie im Schlußwort
des größten aller deutschen Gedichte Goethe voll
tiefer Innigkeit ausspricht: »das Ewig-Weibliche zieht
uns hinan« – so werden auch die nach uns kommenden
beim tieferen Verständniß von Goethe’s Werken von ihm
bekennen: das Ewig-Göttliche zieht uns hinan.